Schutz vor Passivrauch/NiSchG NRW: 2. Offener Brief

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Offener Brief an die Landtagsfraktion der Piraten in NRW

zur Debatte über die Novellierung des Nichtraucherschutzgesetzes


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11.09.2012


Liebe Piraten im Landtag von NRW,

wir hatten Euch vor zwei Monaten einen offenen Brief zur Diskussion über die Änderung des Gesetzes zum Schutz von Nichtraucherinnen und Nichtrauchern in Nordrhein-Westfalen (Nichtraucherschutzgesetz NRW – NiSchG NRW) und die Abstimmung über das Posititionspapier auf dem Landesparteitag (LPT) 2012.3 in Dortmund geschrieben. Bis heute haben wir leider keine direkte Antwort auf unsere inhaltliche Kritik erhalten. Stattdessen hielten es einige von Euch für angebracht, sich im Wiki als „Nicht-Unterstützer“ des offenen Briefes einzutragen. Da wir diese Reaktion für – gelinde gesagt – unadäquat halten und auch sonst bei euch keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema erkennen können, wenden wir uns nun mit einem zweiten Brief an euch.

In der Plenarsitzung des Landtags NRW zur Novellierung des Nichtraucherschutzgesetzes am 4. Juli diesen Jahres hat sich Simone Brand als Hauptrednerin der Piratenpartei darauf beschränkt, das auf die Perspektive von Rauchern und Wirten verkürzte und fachlich wie sachlich problematische Positionspapier des LPT wiederzugeben, statt die ganze Breite des Problemspektrums beim Thema Nichtraucherschutz differenziert anzusprechen. Anregungen dazu und Hinweise auf Schwachstellen des Positionspapiers hatten wir in unserem o.a. offenen Brief thematisiert.

Eine recht verzerrte Sicht der Dinge offenbart Simone Brand bereits am Anfang ihrer Rede, als sie allen Ernstes die Zuständigkeit der Politik für die Aufstellung von Regeln zur Sicherstellung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit in Frage stellt. Zitat: „Die einen wollen sich frei entfalten. Die anderen wollen geschützt werden. Aber ist das die Aufgabe der Politik?“. Natürlich ist es das! Es ist unserer Ansicht nach sogar eine der elementarsten und vornehmsten Aufgaben der Politik, Mitglieder der Gesellschaft vor Schäden durch das hemmungslose Ausleben individueller Interessen anderer zu schützen. Dass eine Piratin, zudem noch eine, deren Fachgebiet nach eigenem Bekunden der Verbraucherschutz ist, eine mögliche Gesundheitsgefährdung von Mitmenschen der „freien und selbstbestimmten Lebensführung“ einzelner unterordnet, macht uns fassungslos. Zitat: „Vielmehr sollte sich unsere Politik doch danach richten, dass sich jeder Mensch im Land frei und selbstbestimmt entfalten kann. Diese freie, selbstbestimmte Lebensführung muss das Kernmerkmal unserer Politik sein.“

Wie weit sich Simone Brand in der Frage des Nichtraucherschutzes von den Idealen der Piraten und nebenbei auch von den Zielen des Verbraucherschutzes entfernt hat, zeigt sich im weiteren Verlauf ihrer Rede, die - wie bereits erwähnt - im Wesentlichen dem Inhalt des von der AG Drogen und Teilen der Fraktion eingebrachten Positionspapiers entspricht. Statt sich auf die verlässlichen Zahlen und Studien anerkannter wissenschaftlicher Institute zu beziehen, zitiert sie fragwürdige Untersuchungen des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (Dehoga), der für seine Verbändelung mit der Tabakindustrie nur allzu gut bekannt ist und des Vereins BFT, der sich als Gegeninitiative zum Volksentscheid „Für echten Nichtraucherschutz in Bayern“ gründete und dessen Vorsitzender der Inhaber der Zeitschrift „Fine Tabacco“ und des „Genuss Journals“ ist. Es liegt auf der Hand, dass diese interessengesteuerten Vereinigungen zu ganz anderen Ergebnissen kommen als etwa das renommierte Deutsche Krebsforschungszentrum.

Und auch die Ausdrucksweise in den Ausführungen von Simone Brand lässt eine beängstigende Nähe zur Sprachregelung der Tabaklobby erkennen. Die Benutzung des Wortes „Bevormundung“ im Zusammenhang mit dem Nichtraucherschutz beispielsweise ist nichts anderes als der höchst unlautere Versuch, die Opferrolle komplett umzudrehen. Insgesamt zeugt die Rede von Simone Brand von einem Politikverständnis, das die individuelle Freiheit inklusive möglicher Umweltschädigung vor den Schutz der Menschen vor dieser Schädigung stellt. Sie relativiert damit den Piratengrundsatz und die Forderung des Grundgesetzes, dass die Freiheit des einzelnen dort zu enden hat, wo ein anderer in seiner Freiheit eingeschränkt oder gar seines Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit beraubt wird. Dass Simone Brand sich zu diesem Zwecke wider besseres Wissen die Argumentation der Tabaklobby zu eigen macht und konsequent die gegenläufigen Ergebnisse seriöser wissenschaftlicher Studien und die Realität der Situation zum Nichtraucherschutz vor allen Dingen auf dem Lande ignoriert, schlägt dem Fass den Boden aus.

Pirat und MdL Dietmar Schulz schlägt in die gleiche Kerbe, indem er in einer leidenschaftlichen Rede vor dem Landtags-Plenum am gleichen Tag und zum gleichen Anlass das Schicksal der „Tausende[n] von Gastwirten“ beklagt, „die vor nicht ganz fünf Jahren Zigtausende von Euro in den Umbau ihrer Gaststätten investiert haben“. Dietmar Schulz unterschlägt dabei, dass in dem ursprünglichen Gesetz unter §7 festgeschrieben wurde, dass die Auswirkungen des Gesetzes nach drei Jahren (also 2011) überprüft werden müssen. Damit dürfte jedem Gastronomen bewusst gewesen sein, dass in Folge dieser Überprüfung eine Korrektur des Gesetzes und mithin eine Verschärfung des Nichtraucherschutzes sehr gut möglich ist. Wer angesichts dieser Sachlage von einem unkalkulierbaren Risiko für die Umbau-Investitionen spricht, muss sich günstigstenfalls den Vorwurf der Befangenheit gefallen lassen.

Aber Dietmar Schulz ist nicht der Einzige in der Fraktion, der sich mehr Sorgen um das wirtschaftliche Wohl von Gastwirten als um die Gesundheit von deren Angestellten und Gästen macht. Am 24. August wird Joachim Paul in der „Piratenstunde“ darauf angesprochen, dass bereits Tabakhändler mit sogenannten “Studien der Piratenpartei” werben. Der eigentliche Punkt, nämlich die offensichtliche Instrumentalisierung von Piratenpartei und Fraktion, entgeht ihm. Er macht klar, dass er sich in erster Linie dem wirtschaftlichen Erfolg von Gastronomen und den Interessen von Rauchern verpflichtet fühlt. Dabei ist er sich nicht zu schade, den CDU-Fraktionsvorsitzenden Karl-Josef Laumann zu zitieren: „Wenn der Sowieso feierabends nach Hause kommt und sich in der Gaststätte um die Ecke ein Bierchen zischen möchte und dazu eine rauchen will, dann soll er das bitteschön tun können.“ Selbstgefälliger und stammtischnäher kann man sich wohl kaum zum Thema Nichtraucherschutz äußern. Mit der gleichen Logik könnte man verlangen, dass ein Autofahrer, wenn er seinen Arbeitstags-Frust abreagieren will, gefälligst auch mal mit 180 Sachen durch die Stadt brausen können soll. Wissend um die Unzulänglichkeit und Absurdität derartiger Argumentation möchte Joachim Paul offenbar keine Verantwortung für die Haltung der Fraktion zum Nichtraucherschutz übernehmen. Er verweist auf Simone Brand und den AK Drogenpolitik, weil er „in dem Thema nicht so drin“ sei. Was ihn interessanterweise aber nicht davon abgehalten hat, auf dem LPT 2012.3 als massiver Befürworter des Positionspapiers zur Novellierung des Nichtraucherschutzgesetzes NRW aufzutreten, zu dessen Antragstellern er im Übrigen gehörte.

Uns scheint, dass alle diese Äußerungen dem eigenen Abhängigkeitsverhältnis zum Tabakrauchen geschuldet sind. Anders lässt sich die undistanzierte Adaption der Positionen, Sprachregelungen und Quellen der Tabaklobby von ansonsten integren Piraten nicht erklären.

Vor allem vermissen wir eine ernsthafte und seriöse Auseinandersetzung mit dem Thema Nichtraucherschutz. Zumal es sich um eine Fragestellung handelt, die das Kernthema der Piraten betrifft und alleine aus diesem Grunde schon einer äußerst sorgfältigen und differenzierten Betrachtung bedarf. Es geht um die Frage nach der Balance zwischen individueller Freiheit und Verantwortung – zwischen Willensfreiheit und Handlungsfreiheit. Gibt es ein Recht auf Tabakkonsum? Gibt es ein Recht auf Tabakkonsum in Anwesenheit und unter Schädigung oder Verdrängung anderer Menschen? Für welche Freiheit stehen wir Piraten: für die Freiheit, dass jeder immer und überall tun und lassen kann was er gerade will, oder doch eher für das Freiheitsideal der Aufklärung? Wie ist der Begriff Freiheit unter dem Aspekt einer psychischen oder physischen Abhängigkeit eines Individuums einzuordnen? Und natürlich – ganz wichtig – die Frage: Wer profitiert wirklich von Regelungen, die wir als Parlamentarier befürworten?

Wir apellieren an euch - die Piratenfraktion im Landtag NRW - eure bisherige Haltung zum Thema Nichtraucherschutz zu überdenken und die berechtigten Bedenken vieler Basispiraten ernst zu nehmen. Ebenfalls sollte euch die öffentliche Kritik an der mutmaßlichen Unterwanderung der Piraten durch Aktivisten der Tabak- und Raucherlobby zu denken geben.

Mit freundlichen Grüßen

  • Thomas Latzke
  • Eric Manneschmidt
  • Willi Wurm
  • Stefan Klatt
  • NoSuchNick
  • Hagen Skirlo
  • Ingo Hoffmann
  • Claus Kedziora

et al.