NRW:LTW2012/Wahlprüfsteine Flüchtlingsrat
Geschäftsstelle des Flüchtlingsrats NRW e. V.
Bullmannaue 11
D-45327 Essen
Sehr geehrte Damen und Herren,
nicht alle Menschen, die in NRW leben und faktisch Teil der Gesellschaft geworden sind, haben die Möglichkeit, am 13. Mai mit ihrer Stimme Einfluss auf die künftige Politik des Landes zu nehmen. Als landesweiter Interessensverband für die Rechte von Flüchtlingen wenden wir uns daher an Sie mit der Bitte um Auskunft darüber, welche flüchtlingspolitischen Ziele Ihre Partei in den kommenden Jahren verfolgen wird.
Von besonderem Interesse sind hierbei folgende Fragen:
1. Bleiberecht Am 31.12.2011 sind die vorläufig erteilten Aufenthaltserlaubnisse nach der Bleiberechtsregelung ausgelaufen. Obwohl es in NRW noch keine validen Zahlen darüber gibt, ob und welche Aufenthaltserlaubnisse im Anschluss erteilt wurden, zeichnet sich ab, dass sich eine große Zahl der ehemals Begünstigten aktuell wieder in einem unsicheren Status befindet. Stichprobenartige Nachfragen zeigen, dass etwa 40 % der Betroffenen bislang lediglich eine Fiktionsbescheinigung erhalten haben. Zahlen zu Betroffenen, die in die Duldung zurückgefallen sind, liegen noch nicht vor. Darüber hinaus leben bundesweit bereits wieder ca. 55.000 Menschen seit z.T. deutlich über 6 Jahren im Duldungsstatus, die aufgrund der Stichtagsregelung nicht in die ausgelaufene Bleiberechtsregelung einbezogen waren. Dies macht deutlich, dass die bisherigen Regelungen das Problem der Kettenduldungen nicht annähernd lösen konnten. In NRW lebten zum Stichtag 31.12.2011 insgesamt 26.614 Menschen mit Duldung. Auch die Bleiberechtsregelung für gut integrierte Jugendliche und Heranwachsende, die am 01.07.2011 in Kraft getreten ist, konnte die an sie gestellten Erwartungen nicht erfüllen und bei der o.g, Problemlage keine Abhilfe schaffen. Zum 31.12.2012 waren in NRW gerade einmal 19 Aufenthaltserlaubnisse nach § 25a AufenthG erteilt worden.
Wir fragen Sie: Werden Sie sich für eine nachhaltige gesetzliche Bleiberechtsregelung auf Bundesebene einsetzen, die keinen Stichtag mehr enthält (rollierende Regelung) und die sicherstellt, dass eine unverschuldet fehlende oder unzureichende Lebensunterhaltssicherung kein Ausschlusskriterium darstellt? Werden Sie sich darüber hinaus dafür einsetzen, dass eine Härtefallregelung auch Personen einbezieht, die aus besonderen Gründen ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sichern können (Alte, Kranke, Behinderte, Traumatisierte, Kinderreiche)?
Zur nachhaltigen gesetzlichen Bleiberechtsregelung:Die PIRATEN NRW setzen sich für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen und Migranten ein. Aus diesem Grund wollen wir eine Erleichterung der Anforderungen für den Übergang in einen dauerhaften Aufenthaltsstatus. Hierbei ist die Situation von langjährig geduldeten Flüchtlingen und solchen Flüchtlingen, die ihren Lebensunterhalt nicht eigenständig sichern können, besonders zu berücksichtigen. Langfristig ist auf ein dauerhaftes Bleiberecht für geduldete Flüchtlinge, die sich länger als fünf Jahre in Deutschland aufhalten, hinzuarbeiten. Die PIRATEN NRW verstehen Integration als gesamtstaatliche Aufgabe. Die PIRATEN NRW unterstützen aus diesem Grund landes- und kommunalpolitische Anstrengungen zum Erhalt und Optimieren der bestehenden Integrationsstrukturen des Landes. Ziel der PIRATEN NRW ist es, die soziale, gesellschaftliche und politische Teilhabe von und mit Menschen mit Migrationshintergrund unabhängig von sozialer Lage, Herkunft, Geschlecht, sexueller Identität oder Religion auf Basis der freiheitlichen demokratischen Grundordnung voranzutreiben. Wir setzen uns für eine generelle Aussetzung von Abschiebungen und Abschiebehaft ein, soweit es die rechtlichen Befugnisse des Landes zulassen. Abschiebung ist ein staatliches Zwangsmittel, welches oft nur mit Hilfe von Maßnahmen durchgeführt werden kann, die mit den Grundrechten und Menschenrechten in Konflikt stehen und somit eines freiheitlichen Rechtsstaates unwürdig sind. Die Konsequenzen einer Abschiebung führen für den betroffenen Menschen fast immer zu einer aussichtslosen Situation und oft auch zu Gefahr für Leib und Leben. Generell halten wir das Asyl- und Ausländerrecht Deutschlands für überarbeitungsbedürftig, da es die Menschenrechte nicht effizient schützt. Hierzu gehört auch die Gestaltung einer humanen Einwanderungspolitik.
2. Humanitärer Aufenthalt nach § 25 Abs. 5 AufenthG
In Art. 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK) wird das Recht der Achtung von Privat- und Familienleben normiert. Auf dieses – direkt anwendbare - Recht beziehen sich viele Gerichtsurteile und stellen fest, dass gerade lange hier lebende junge Menschen durch ihre Einbindung in die hiesigen Lebensverhältnisse verwurzelt sind und damit zu „faktischen Inländern“ geworden sind. Trotz der einschlägigen Rechtssprechung erteilen viele Ausländerbehörden in ähnlich gelagerten Einzelfällen nur selten eine Aufenthaltserlaubnis. Der § 25 Abs. 5 AufenthG sollte hier eigentlich Spielräume für die Ausländerbehörden schaffen, um eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen zu ermöglichen.
Wir fragen Sie: Werden Sie sich dafür einsetzen, dass das Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes NRW den Erlass zu humanitären Aufenthalten deutlich im ursprünglichen Sinne dieser Regelung modifiziert und die Ausländerbehörden auffordert, im Falle positiver Integration eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG zu erteilen?
Ja, siehe oben und Art. 2 GG und unser Wahlprogramm https://wiki.piratenpartei.de/NRW-Web:Wahlprogramm_Landtagswahl_NRW_2012#Ausl.C3.A4nder-.2C_Asyl-_und_Fl.C3.BCchtlingswesen
3. Kinderrechte Am 15. Juli 2010 hat die Bundesregierung gegenüber den Vereinten Nationen förmlich die Rücknahme des ausländerrechtlichen Vorbehaltes zur UN-Kinderrechtskonvention erklärt. Trotz der Rücknahme der Vorbehaltserklärung sieht die derzeitige Bundesregierung keinen Handlungsbedarf, das nationale Aufenthalts- und Asylrecht entsprechend zu ändern. Für Flüchtlingskinder in Deutschland bedeutet dies, dass auch zwei Jahre nach der Rücknahme des Vorbehaltes ausländer- und asylrechtliche Vorgaben das alltägliche Leben bestimmen. So werden Kinder mit prekärem Aufenthaltsstatus in ausländer- und asylrechtlichen Verfahren nach wie vor bereits ab 16 Jahren wie Erwachsene behandelt. Kinder müssen oftmals in Sammelunterkünften leben und haben in vielen Fällen lediglich Zugang zu den reduzierten Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes. Auch der Zugang zu Bildung, Förderung und pädagogischer Betreuung sowie zu medizinischer Behandlung ist nur eingeschränkt möglich.
Wir fragen Sie: Wie wollen Sie den Gestaltungsspielraum der Bundesländer nutzen, um die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention in Nordrhein-Westfalen auch für Flüchtlinge zu realisieren?
Ja, natürlich. Es gibt keinen Unterschied zwischen Menschen und Menschen. Die Unterscheidung in der Praxis zwischen Inländer und Ausländer, bedenkenlos mündige Erwachsene und unmündige Kinder benachteiligt Flüchtlingskinder besonders und dies möchten wir änden. Die "Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention" zu realisieren ist unser Ziel, praktisch schlagen wir in unserem Wahlprogramm vor: Integration in Schulen und auch die Kulturpädagogik auszubauen.
4. Asylbewerberleistungsgesetz In NRW existieren alle im AsylbLG genannten Varianten der Leistungsgewährung, die Erbringung in Form von Sachleistungen, von Wertgutscheinen und von Bargeld. Die Gewährung von Lebensmittelpaketen aber auch von Gutscheinen ist stigmatisierend und behindert eine menschenwürdige Lebensführung. Zudem sind sie mit erheblichen zusätzlichen Kosten für die Kommunen verbunden. Insbesondere Betroffene in ländlichen Regionen sind so häufig gezwungen ihren Bedarf zu deutlich höheren Kosten zu decken, weil die günstigen Discounter sich dem Gutscheinsystem verweigern. Das Asylbewerberleistungsgesetz schreibt einen Grundbedarf für Flüchtlinge fest, der etwa 40 % unter dem gesetzlichen Existenzminimum entsprechend SGB II bzw. SGB XII liegt. Über die Verfassungsmäßigkeit dieser Bedarfssätze wird in Kürze das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Auch wenn es sich bei dieser Regelung um ein Bundesgesetz handelt und die Durchführung in der Zuständigkeit der Kommunen liegt, hat das Land durchaus Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Gerade durch die Einführung des Teilhabe- und Integrationsgesetzes mit der Öffnung für Flüchtlinge ist das Land gefordert, hier tätig zu werden.
Wir fragen Sie: Werden Sie sich auf Bundesebene für eine Aufhebung dieses Gesetzes einsetzen? Werden Sie sich für eine Positionierung des Landes einsetzen, die den Kreisen und Kommunen vermittelt, dass das Land sich für eine Leistungsgewährung in Form von Bargeld ausspricht?
Sie sprechen uns aus der Seele. Konkret konnten wir uns um dieses Thema noch nicht befassen. Ihre Mitarbeit hierbei ist herzlich willkommen. Prinzipiell lehnen Piraten Vorverurteilung und Generalverdacht ab, damit auch das Gutscheinsystem. Auf eine konkrete Ausarbeitung der Themas mit Ihnen zusammen freuen wir uns.
5. Unterbringung Die überwiegend mehrjährige Unterbringung in sogenannten Gemeinschaftsunterkünften und der Zustand vieler dieser Unterkünfte stellen einen menschenunwürdigen Umgang mit Flüchtlingen dar, der die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 GG erheblich einschränkt. Bei der Wahl der Unterbringung von Flüchtlingen sind laut Bundesgesetz das öffentliche Interesse und die persönlichen Belange der Flüchtlinge gegeneinander abzuwägen. Insbesondere in ländlichen Regionen hat diese Art der Unterbringung zur Folge, dass die Betroffenen isoliert, stigmatisiert und entmündigt werden. Häufig liegen diese Unterkünfte weit außerhalb der dazugehörenden Orte und sind teilweise noch nicht einmal an den ÖPNV angeschlossen. Die fehlenden Möglichkeiten der Betroffenen aus eigener Kraft an dieser Situation etwas zu ändern stellt für jeden, der dort lebt, eine extreme Belastung dar. Viele Betroffene leiden zudem unter physischen Beeinträchtigungen – beispielsweise unter chronifizierten Erkrankungen der Atemwege als Folge des häufigen Schimmelbefalls der Unterkünfte. Besonders für Kinder ist diese Form der Unterbringung auf Dauer unzumutbar (fehlende Privatsphäre, keine Rückzugsmöglichkeiten für Spiel oder Schulaufgaben, keine spezifischen Angebote etc.). Mit Blick auf die Kommunen muss zudem festgehalten werden, dass diese Art der Unterbringung mit erheblichem zusätzlichem Kostenaufwand verbunden ist, zumal das frühere Argument der Wohnungsknappheit in der Mehrzahl der Kommunen heute so nicht mehr gilt. Mit dem Teilhabe- und Integrationsgesetz NRW, dass eine Öffnung für Flüchtlinge enthält, hat sich das Land eine Selbstverpflichtung auferlegt, mehr Teilhabe von Zugewanderten zu ermöglichen.
Wir fragen Sie: Wie beurteilen Sie grundsätzlich die Situation der Unterbringung von Flüchtlingen? Werden Sie sich auf Landesebene dafür einsetzen, dass eine Unterbringung in solchen Unterkünften allenfalls vorübergehend erfolgen soll? Wie stellt sich für Sie das öffentliche Interesse bei der Unterbringung von Flüchtlingen dar? Wie stehen Sie zu der Forderung, Asylsuchenden nach der Erstaufnahme grundsätzlich eine dezentrale Unterbringung bzw. Einzelunterbringung zu ermöglichen?
Dazu haben wir konkret keine Beschlusslage getroffen. Grundsätzlich haben Sie mit Ihrer Feststellung die aktuelle Situation sehr gut beschrieben. Zu ihren Fragen: Die Flüchtlinge sind natürlich mindestens nach Art. 1 und 2 GG unterzubringen. Die Unterbringung sollte aber nur auf freiwilliger Basis und möglichst ortsnah erfolgen. Es gibt Fälle, in denen Flüchtlinge bei Verwandten oder Bekannten wohnen können und möchten. Diese Flüchtlinge hunderte Kilometer weit entfernt zwangsweise in ein Sammellager unterzubringen verstößt gegen Grundrechte, abgesehen davon, dass es ökonomisch nicht sinnvoll ist. In diesen Fällen scheint die zwangsweise Unterbringung in Sammellagern, in denen dazu noch schlechte hygienische Bedingungen herrschen, eine rein repressive Willkür-Maßnahme zu sein. Wir stellen fest, dass die Öffentlichkeit Flüchtlingen eher ängstlich, kritisch oder besorgt gegenüber steht - wenn überhaupt. Ihre kulturelle Bereicherung für die Gesellschaft wird kaum in Betracht bezogen. Dies muss sich ändern. Innerparteilich ist unsere Programmatik zu diesem Punkt noch nicht ganz ausgereift. Wir laden Sie gerne dazu ein, mit uns dieses Thema zu besprechen.
6. Medizinische Versorgung
Das Asylbewerberleistungsgesetz beschränkt die medizinische Versorgung von Asylsuchenden auf die Behandlung von "akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen". Zahnersatz wird nur gewährt, soweit dies aus medizinischen Gründen unaufschiebbar ist. Einen Anspruch auf eine bestmögliche Versorgung gibt es nicht. Für die Behandlung von chronischen Erkrankungen besteht abgesehen von der Schmerzbehandlung kein Leistungsanspruch. In der Vergangenheit wurden zum Beispiel notwendige Nierenoperationen verweigert, Kinder bekamen keine Hörgeräte, Behinderten wurden notwendige Hilfsmittel verweigert etc. Auch hier muss hervorgehoben werden, dass die medizinische Versorgungssituation in ländlichen Regionen besonders prekär ist. In anderen Bundesländern wird deshalb eine Versicherungslösung angestrebt, nicht zuletzt, weil die mit dem heutigen System verbundenen Kosten eine extreme Belastung der Kommunen darstellen. Vielfach treffen noch nicht einmal Mediziner die Entscheidung über die Notwendigkeit einer Behandlung, sondern der jeweilige Sachbearbeiter des zuständigen Sozialamtes. Diese Einschränkungen existieren für keine andere Gruppe in der Bundesrepublik Deutschland.
Wir fragen Sie: Wie beurteilen Sie diesen ausgrenzenden Umgang mit Menschen? Werden Sie sich dafür einsetzen, dass auch in NRW eine z.B. am Bremer Modell orientierte Lösung für die medizinische Versorgung von Flüchtlingen eingeführt wird?
Nicht jede behandlungswürdige medizinische Situation äußert sich durch akute Schmerzen, und wenn doch, dann ist es oft zu spät. Hinzu kommt, dass eine rein symptomatische Therapie nur selten die Ursachen einer Krankheit bekämpft. Die Regelung, dass nur Schmerzbehandlung zugelassen ist, ist weder medizinisch nicht sinnvoll. Ökonomisch übrigens auch nicht, denn da die Ursachen nicht behandelt werden, kommen die Patienten immer wieder und verursachen weitere Kosten. Das Bremer Modell, in dem die Menschen eine Chipkarte der AOK erhalten, klingt sinnvoll und ünterstützenswert. Gerne laden wir Sie dazu ein, mit uns zu besprechen, wie ein solches Modell in NRW umgesetzt werden könnte.
7. Prüfung der Reisefähigkeit bei Abschiebung Im Informations- und Kriterienkatalog (IuK) zu Fragen der ärztlichen Mitwirkung bei Abschiebungen vom 22.11.2004 setzte NRW als erstes Bundesland neue Standards zu Fragen der medizinischen Begutachtung physisch und psychisch Kranker im Vorfeld von Abschiebungen fest. Mit Erlass vom 16.12.2004 wies das Ministerium für Inneres und Kommunales NRW die Ausländerbehörden an, diese Standards verbindlich anzuwenden. Der IuK sieht unter anderem vor, dass bei geltend gemachten psychischen Erkrankungen insbesondere bei Hinweisen auf Eigen- oder Fremdgefährdung im Vorfeld einer Abschiebung ein psychologisch psychotherapeutisches Gutachten einzuholen ist, um die Reisefähigkeit und nicht die reine Flugtauglichkeit einer Person zu überprüfen. Trotz dieser, von Ländervertretern und Vertretern der Bundesärztekammer erarbeiteten Standards ist die fachärztliche Begutachtung psychisch Kranker auch bei drohender Suizidalität oder der Gefahr der Retraumatisierung längst nicht der Regelfall in NRW. Noch immer beauftragen Ausländerbehörden in diesen Fällen Notfall- oder Reisemediziner mit der Begutachtung. Diese Praxis ist erst mit Erlass vom 22.02.2012 zur Evaluation der praktischen Anwendung des IuK durch das MIK NRW erneut legitimiert worden.
Wir fragen Sie: Wie bewerten Sie die Einschätzung des nordrheinwestfälischen Innenministeriums, dass die Untersuchung der Reisefähigkeit von psychisch Kranken im Vorfeld einer Abschiebung auch von Notfallmedizinern ohne spezielle psychiatrische Qualifikation vorgenommen werden kann? Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen, um die mit der Bundesärztekammer abgestimmten Standards der fachärztlichen Begutachtung psychisch Kranker auch im Kontext von Abschiebungen umzusetzen?
Wir setzen uns für eine generelle Aussetzung von Abschiebungen ein - insofern würden bei Umsetzung dieser Forderung auch die Untersuchung zur Reisefähigkeit entfallen, da es dann keine Abschiebungen mehr gäbe. Ansonsten haben Sie natürlich Recht damit, dass Notfallmediziner keine qualifizierte psychiatrische Diagnose stellen können, schon gar nicht eine Prognose in Bezug auf Suizid-Wahrscheinlichkeit.
8. Flughafenverfahren gemäß § 18a Asylverfahrensgesetz
Das so genannte Flughafenverfahren ist ein Asylschnellverfahren, welches 1993 als Teil des „Asylkompromisses“ eingeführt wurde und derzeit Anwendung an den Flughäfen Frankfurt am Main, München, Berlin, Hamburg und Düsseldorf findet.
Im Rahmen des Flughafenverfahrens werden schutzsuchende Personen unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen zu ihren individuellen Fluchtgründen angehört. Erst nach der Anhörung wird darüber entschieden, ob die Personen in die Bundesrepublik einreisen und hier ihr Asylverfahren durchlaufen dürfen. Für die Dauer des Verfahrens werden die Flüchtlinge in einem mit Stacheldraht umzäunten und von einer Sicherheitsfirma bewachten Container auf dem Flughafengelände untergebracht. Die haftähnliche Unterbringung sowie die unmittelbare Anhörung nach einer nicht selten monatelangen Flucht stellt insbesondere für Traumatisierte, Familien mit Kindern sowie für Personen mit Inhaftierungserfahrungen, eine enorme Stresssituation dar. Ein substantiiertes Vorbringen der individuellen Fluchtgründe, wie es der Gesetzgeber vorsieht, ist unter diesen Bedingungen kaum möglich.
Hinzu kommen die im Vergleich zum regulären Asylverfahren kurzen Rechtsbehelf- und Begründungsfristen, die eine effektive Wahrnehmung des Rechtschutzes, im Falle einer negativen Entscheidung des BAMF, deutlich erschweren.
Aktuelle Zahlen zeigen zudem, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse im Vergleich zum Jahre 1993 deutlich geändert haben. So haben 2011 insgesamt 94 Personen das Flughafenverfahren am Flughafen Düsseldorf durchlaufen. Allen Personen wurde die Einreise in das Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland gestattet. Die Anzahl der Asylsuchenden, die aus sicheren Herkunftsstaaten stammen, die eigentliche Zielgruppe des Flughafenverfahrens, belief sich im Jahr 2011 am Düsseldorfer Flughafen auf Null. Bei den Hauptherkunftsländern handelte es sich vielmehr um Staaten wie Iran, Afghanistan und Syrien.
Wir fragen Sie: Wie bewerten Sie das Flughafenverfahren hinsichtlich der Anforderungen an ein faires Asylverfahren? Werden Sie sich für eine Aussetzung dieser Praxis am Düsseldorfer Flughafen einsetzen?
Eine Inhaftierung unmittelbar nach Ankunft ohne Verfahren und ohne Straftat widerspricht den Grundrechten. Da wir uns in unseren Wahlprogramm aus dem selben Grund gegen die Abschiebehaft aussprechen, sind wir natürlich auch für die generelle Aussetzung der Praxis des "Flughafenverfahrens".
9. Unterstützung von Menschen ohne Papiere Bundesweit existieren zahlreiche Initiativen, die sich für den betroffenen Personenkreis einsetzen. Auch in NRW ist die Zahl von Organisationen, die sich für Menschen „ohne Papiere einsetzen“ gestiegen. Hierbei handelt es sich jedoch um ehrenamtliche Initiativen, die sich häufig auf einen Aspekt der Versorgung konzentrieren, wie z.B. die Gründung von medinetz Essen im Jahr 2010, das sich für die medizinische Versorgung von Illegalisierten einsetzt. Im letzten Jahr wurde § 87 AufenthG dahingehend geändert, dass Schulen und Kindertageseinrichtungen von der Übermittlungspflicht ausgenommen sind. Allerdings führt dies in der Praxis noch immer nicht dazu, dass Menschen „ohne Papiere“ ihren Kindern den Besuch eines Kindergartens ermöglichen können. Es scheitert daran, dass Eltern, die keine Gehaltsabrechnung vorlegen können, in die höchste Beitragsstufe eingeteilt werden. Folgende Mindestforderungen haben Priorität:
- Die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung für Menschen „ohne Papiere“.
- Die Gewährleistung eines ungehinderten Zugangs von Kindern und Jugendlichen zu Kindertageseinrichtungen.
- Aufzeigen von Wegen aus der Illegalität.
- Die Selbstverpflichtung der Ordnungs- und Polizeibehörden, illegalisierte Menschen nicht zu observieren, die humanitäre, karitative oder Gesundheits-Einrichtungen aufsuchen.
- Die Schaffung von Voraussetzungen, um öffentliche Stellen von der Pflicht zu entbinden, Illegalisierte dem Ausländeramt zu melden.
Wir fragen Sie: Werden Sie sich für die Umsetzung der genannten Mindestnormen stark machen?
In der Tat ist die Situation der Menschen ohne Papiere (Sans papiers) höchst prekär. Sie leben in ständiger Angst entdeckt zu werden. Die Folge sind in der Regel unter anderem Schwarzarbeit und keine medizinische Versorgung. Da sie sich an keine offiziellen Stellen wenden können, um ihre Rechte einzufordern, sind sie de facto rechtlos. Als Partei mit humanistischer Ausrichtung liegt uns viel daran, solche Situationen zu verbessern. Die Übermittlungspflicht von Ämtern muss abgeschafft werden. Es muss eine Möglichkeit geschaffen werde, wie diese Menschen zumindest eine medizinische Basisversorgung erhalten können. Denkbar wäre evtl. eine anonyme Kranken-Versicherungskarte, die von Beratungsstellen ausgegeben werden kann. Das größte Problem dieser Menschen ist aber die Angst entdeckt und abgeschoben zu werden. Aus diesem Grund fordern die Piraten NRW in ihrem Wahlprogramm die generelle Aussetzung von Abschiebung und Abschiebehaft.
10. Soziale Beratung von Flüchtlingen Seit 1997 führt das Land Nordrhein-Westfalen - richtungsweisend für andere Bundesländer - das Programm zur Sozialen Beratung von Flüchtlingen durch. Leider ist auch dieses Programm in den vergangen Jahren nicht von Kürzungen verschont geblieben, so dass nunmehr nur noch ein löcheriges Netz an Beratungsangeboten in Nordrhein-Westfalen vorgehalten werden kann. Die in der vergangenen Legislaturperiode vorgenommene Anpassung der Förderbeträge war erfreulich, allerdings nicht ausreichend. Aus diesem Grund hat sich der Flüchtlingsrat NRW den Forderungen der Wohlfahrtsverbände angeschlossen, die eine Anpassung der Fördersätze auf 41.500 € (pro Vollzeitstelle) zzgl. 3.000 € Sachkosten anmahnen. Eine solche Anpassung ist für den Erhalt der noch vorhandenen Beratungsstrukturen unabdingbar und verglichen mit der Förderung der Integrationsagenturen und RAA`s auch angemessen. Besonders erfreulich aus unserer Sicht ist die in der letzten Legislaturperiode wieder aufgenommene Förderung des bürgerschaftlichen Engagements des Flüchtlingsrates Nordrhein-Westfalen.
Wir fragen Sie: Werden Sie sich im Landtag für die nachhaltige Fortschreibung und Weiterentwicklung des Programms zur „sozialen Beratung von Flüchtlingen in Nordrhein-Westfalen“ sowie für die Förderung des Flüchtlingsrates Nordrhein-Westfalen einsetzen? Werden Sie sich konkret für eine angemessene Anpassung der Förderbeträge im oben genannten Sinne einsetzen?
Einen konkreten Beschluss haben wir dazu nicht. Generell können wir noch keine qualifizierten Aussagen treffen, was Haushaltsplanungen betrifft. Dies liegt daran, wie sie auch der Presse entnehmen können, dass wir auf unsere Anfragen bezüglich der detaillierten Zahlen zum Haushalt keine Antwort erhalten haben, sodass uns keine Zahlen vorliegen. Der erfreulichen neuen Richtung der verbesserten Förderung des Flüchtlingsrates stimmen wir aber grundsätzlich zu und würden gerne unseren Teil dazu beitragen.
Unsere Wahlprüfsteine sowie die Antworten der Parteien werden wir auf unserer Website veröffentlichen.
Für eine Beantwortung der o. g. Fragen bis zum 30.04.2012 danken wir Ihnen im Voraus und verbleiben
mit freundlichen Grüßen
gez. Heinz Drucks (Vorstand)