Benutzer:Alu/Neue Gesellschaft

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Die erste Voraussetzung für den Aufbau einer neuen Gesellschaft ist, sich die nahezu unüberwindbaren Schwierigkeiten bewusstzumachen, die einem solchen Versuch im Wege stehen. Das vage Wissen um diese Hindernisse dürfte einer der Hauptgründe sein, warum so wenig Anstrengungen unternommen werden, um den nötigen Wandel herbeitzuführen. „Warum nach dem Unmöglichen streben?“ mögen viele denken. „Tun wir lieber weiterhin so, als werde uns der Kurs, den wir steuern, an den Ort der Sicherheit und des Glücks geleiten, der auf unseren Karten verzeichnet ist.“ Wer unbewusst verzweifelt, nach aussen aber eine Maske von Optimismus zur Schau trägt, handelt nicht gerade weise. Wer aber die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, kann nur dann Erfolg haben, wenn er realistisch denkt, alle Illusionen über Bord wirft und den Problemen ins Auge sieht. Diese Nüchternheit unterscheidet die wachen von den träumenden „Utopisten“.

Nachstehend nur einige der Schwierigkeiten, die es beim Aufbau der neuen Gesellschaft zu überwinden gilt:

  • Es ist die Frage zu lösen, wie die industrielle Produktionsweise beibehalten kann, ohne in totaler Zentralisierung zu enden, das heisst im Faschismus früherer Prägung oder - wahrscheinlicher - im technokratischen „Faschismus mit einem lächelnden Gesicht“.
  • Die gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung müsste - unter Verzicht auf die weitgehend zur Fiktion gewordene „freie Marktwirtschaft“ - mit einem hohen Mass an Dezentralisierung verbunden werden.
  • Das Ziel unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums müsste aufgegeben bzw. durch selektives Wachstum ersetzt werden, ohne das Risiko einer wirtschaftlichen Katastrophe einzugehen.
  • Es gälte entsprechende Arbeitsbedingungen und eine völlig andere Einstellung zur Arbeit zu schaffen, so dass nicht mehr der materielle Gewinn den Ausschlag gibt, sondern andere psychische Befriedigungen als Motiviation wirksam werden können.
  • Der wissenschaftliche Fortschritt müsste gefördert und gleichzeitig sichergestellt werden, dass seine praktische Anwendung nicht zur Gefahr für die Menschheit wird.

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Die Erarbeitung praktikabler Methoden für die Mitbestimmungsdemokratie ist vermutlich wesentlich schwieriger als die Konzeption einer demokratischen Verfassung im 18. Jahrhundert. Es wird ungeheurer Anstrengungen vieler fähiger Menschen bedürfen, ...

„Wozu diese aufwendigen Pläne“, wird sich mancher fragen, „wenn die Ansichten der Bevölkerung in ebenso kurzer Zeit Meinungsumfragen ermittelt werden können?“ Dieser Einwand berührt einen der problematischten Aspekte dieser Form von Meinungsäusserung. Was sind denn die „Meinungen“, auf denen Umfragen basieren, anderes als die Ansichten von Menschen, denen es an ausreichender Information und an Gelegenheit zu kritischer Reflexion und Diskussion fehlt? Ausserdem wissen die Befragten, dass ihre „Meinungen“ nicht zählen und somit ohne Auswirkungen bleiben. Solche Meinungen stellen nur die bewussten Ideen eines Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt dar; sie sagen uns nichts über die in tieferen Schichten vorhandenen Tendenzen, die unter veränderten Umständen zu den entgegengesetzten Meinungen führen können. Der Befragte hat ein ähnliches Gefühl wie der Wähler in einer politischen Wahl, der genau weiss, dass er in Wahrheit keinen weiteren Einfluss auf die Ereignisse nehmen kann, sobald er einem Bewerber zu einem Mandat verholfen hat. In mancher Hinsicht werden politische Wahlen unter noch ungünstigeren Umständen durchgeführt als Meinungsumfragen, da die semihypnotischen Wahlkampftechniken das Denkvermögen beeinträchtigen. Die Wahlen werden zu einem spannungsträchtigen Melodrama ...

Um zu echten Überzeugungen zu kommen, bedarf es zweier Voraussetzungen: adäquate Informationen und das Bewusstsein, dass die eigene Entscheidung wirkmächtig ist.

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aus: Erich Fromm, Haben oder Sein, 1976. Übersetzt aus dem Englischen von Brigitte Stein und Rainer Funk.

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