Benutzer:Ideenflotte/Der S Bahn Ring darf keine Mauer werden
Der S-Bahn-Ring darf keine Mauer werden
Eine autofreie Innenstadt blockiert die Weiterentwicklung der vernetzten Bürgergesellschaft
Der Sozialphilosoph André Gorz schrieb im Herbst 1973 einen Artikel über die soziale Ideologie des Autos. Dort heißt es gleich zu Beginn: «Das schlimmste an Autos ist, dass sie wie Burgen oder Strandvillen sind: Luxusgüter, die für den ausschließlichen Genuss durch eine sehr reiche Minderheit geschaffen wurden und die sowohl von der Idee als auch aus ihrer Natur heraus nie für alle gedacht waren.» Zur selben Zeit löste am 6. Oktober ein Angriff ägyptischer und syrischer Soldaten auf Israel eine künstliche Verknappung der weltweiten Ölreserven aus. Die sozialliberale Koaltion unter Bundeskanzler Willy Brandt führte daraufhin an vier Sonntagen ein weit umgreifendes Fahrverbot ein. Der Krieg im Nahen Osten, die Ölkrise und die autofreien Sonntage waren die Geburtsstunde eines Gedankenexperiments, in der eine Welt ohne motorisierten Privatverkehr möglich ist. 1984 brachte die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL) – ein späterer Berliner Landesverband von Bündnis 90 / Die Grünen – die Forderung nach einem autofreien Berlin erstmals ins Wahlprogramm.
Berlin ist inzwischen die Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschlands und besitzt ein großflächiges ÖPNV-System, das in seiner Struktur und Dichte Städte wie Hamburg und München alt aussehen lässt. Es wurden umfassende S-Bahn-Strecken wie die Ringlinie reaktiviert und Buslinien an verkehrsstarken Knotenpunkten eingeführt. Sie haben die Verkehrssituation zugunsten des ÖPNV erheblich verbessert.
All das hat aber nicht dazu geführt, dass der Autoverkehr in der Innenstadt ausstirbt. Laut einem Mobilitätssteckbrief der TU Dresden gibt es unter 1.000 Einwohnern 358 Pkw. Das liegt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 570 Pkw. Berlin ist dennoch keineswegs eine staufreie Zone. Es gibt Schwerpunkte in der Innenstadt, die in Spitzenzeiten vor Straßenlärm und Umweltbelastung ächzen. Es ist auch nicht akzeptabel, dass noch so viele Autos zum Betrieb fossile Energien benötigen und dann noch obendrein schädliches Kohlendioxid im Übermaß ausstoßen. Das ist aber eine andere Baustelle. Warum es dann immer noch Autos gibt, hat sicherlich weiterführende Gründe.
Das Auto ist für Berliner nicht wie Gorz betonte „für den ausschließlichen Genuss” da: es ist schlichtweg ein praktisches Transportmittel. Mit ihm meistern Familien Ausflüge, Großeinkäufe und den Transport von Kleinmöbeln. Das Auto ist ein gemeinschaftliches Transportmittel in einer Stadt, in der soziale Werte einen höheren Stellenwert als Prestige haben. Dass die Autos in Berlin nicht vor Prunk und Glanz strotzen ist bekannt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Als gebürtige Berline Schnauze möchte ich mir eine solche Feststellung anmaßen.
Ein Verkehrsmittel lebt von seiner Bedeutung und seinem Zweck, den Menschen ihm zuteilen. Viele haben sicherlich schon erlebt, wie Kleinmöbel eines schwedischen Möbelhauses per S-Bahn an ihren Bestimmungsort gefahren werden. Dies ist gewünscht und gewollt, zeichnet aber auch die Grenzen des ÖPNV auf. Den eigentlich handelt es sich um ein Transportmittel für Lebewesen aus Fleisch und Blut. Der „Automangel” in der Stadt erzeugt eine Nachfrage nach alternativen Transportmitteln. Das Geschäft mit Miet-LKW und PKW brummt in Berlin. Und dies gerade deshalb, weil in Berlin die Bereitschaft zum Teilen größer ist als das Bedürfnis zum Besitz.
Vernetzung statt Verbannung
Damit keine Missverständnisse auftreten: ich habe kein Auto. Ich habe keinen Führerschein. Für mich ist das Auto ein Fremdkörper, mit dem ich nicht umgehen kann. Das alles bedeutet aber noch lange nicht, dass ich mich deswegen zum gesellschaftlichen Maßstab erhebe. Der Verzicht auf ein Auto ist eine persönliche Entscheidung. Viel spannender dagegen sind die Möglichkeiten, die ein Auto bietet. Mit ihm kann man mehrere Personen und unhandliche Gegenstände transportieren. Auch in Berlin sind kleine oder private Carsharing-Iniativen beliebt. Es gibt auch schon erste Ansätze für innerstädtische Mitfahrgelegenheiten. Am Anfang habe auch ich das Miet-Fahrradsystems der Deutschen Bahn belächelt, um dann am Ende die Stärke solcher Ideen zu verstehen. Es geht um Zugang zu Verkehrsmitteln – nicht um Eigentum. Hier gibt es interessante Schnittmenge mit der Sharing-Kultur im Internet. So lässt sich daraus schließen, dass der Zugang zu Verkehrsmitteln sich zu einem gesellschaftlichen Grundrecht wie der Zugriff zu Medien entwickelt. Inwieweit Zugänge zu Transportmitteln dann kostenfrei, kostendeckend oder gewinnbringend gestaltet werden hat letztlich die Gesellschaft zu entscheiden. Die Piraten können bei diesem Thema ganz vorne mitspielen. Sie sind die Pioniere der vernetzten Gesellschaft.
Bei den Piraten beobachte ich derzeit eine Wiedergeburt des Themas „autofreie Innenstadt”. So beschäftige sich eine Arbeitsgruppe im Landesverband Baden-Württemberg und schlug die landesweite Einführung autofreier Sonntage vor mit der Begründung, dass dies einen Beitrag „zur 'Lüftung der Köpfe', als Experiment, als Erfahrungsöffnung.” und „zu einer Lebensformengerechtigkeit für diejenigen Bürger, die von einer Entschleunigung des Lebens träumen.” Ganz aktuell gibt es unter LiquidFeedback verschiedene Initiativen, die sich mit der Zukunft des Autoverkehrs in der Innenstadt beschäftigen. Hier sticht die Initiative „Kein privater PKW-Verkehr innerhalb des S-Bahn Rings” hervor, die ein komplettes Verbot von Personenkraftwagen in der Innenstadt fordert. Es sollen nur Lieferfahrzeuge, ÖPNV und Verkehrsmittel mit hoheitlichen Aufgaben wie Polizei und Feuerwehr eine Fahrerlaubnis haben. Menschen, die auf Pkw angewiesen sind, sollen Sondergenehmigungen erhalten. Die Forderung geht sogar soweit, dass sie die Idee vom kostenlosen ÖPNV mit dem Verbot privater Pkw verküpft wird. Denn, so die Argumentation, wird mit dem Verbot gleichzeitig „der ÖPNV massiv ausgebaut und kostenlos”. Die Diskussion über Pkw-Verbote hat gerade erst angefangen. Sie ist enorm wichtig. Denn es muss das Verhältnis zwischen den verkehrspolitischen Zielen der Piraten und den Bedürfnissen der Bürger geklärt werden. Wollen wir auf Verkehrsmittel verzichten oder wollen wir lieber bestehende Verkehrsmittel effizient verbinden? Übrigens: wir reden hier noch nicht von Motorrädern, aber die wären sicherlich dann als Nächstes dran.
Die Vorstellung von einer autofreien Innenstadt hat etwas Romantisches. Wer hat nicht die leeren Straßen von Sim City 1.0 vor Augen, in denen Straßen eher ein schmuckes Beiwerk waren und Straßenbahnen und U-Bahnen die Menschen von A nach B sichtbar führten. Oder die leeren breiten Straßen sonntags um 7 Uhr morgens, wenn die Bürger in Berlin entweder in den Clubs der Stadt oder in ihren Wohnungen verweilen. Bei allem Verständnis für Phantasie. Das hat nichts mit Problemlösung zu tun und schon gar nicht entspricht es der Lebensrealität der Berliner. Wenn einige aus persönlichen Gründen auf ein Auto verzichten wollen, kann man nicht den Rest der Berliner für ihre fehlende Einsicht bestrafen, in dem man ihren Autos ein Stoppschild für die Innenstadt aufhalst. Ich habe schon Schwierigkeiten mit der Umweltzone. Aber ein Aussperren von Autos aus der Innenstadt hat mit Freiheit, Selbstbestimmung, Gemeinschaft nichts mehr zu tun. Wir können nicht einfach ein verkehrspolitisches Thema in einer vernetzten Gesellschaft mit antiquarischen Mitteln wie Verkehrsverboten behandeln. Ein Verbot schafft aber auch ein künstliches Monopol. Die komplette Abhängigkeit des Bürgers vom öffentlichen Nahverkehr führt zu einem seltsamen Verhältnis zwischen Stadt und Bürgern. Wir haben diese Erfahrungen alle bitter machen müssen, seit dem die S-Bahn ihren Betrieb eingeschränkt hat. Die Bürger wurden kreativ, in dem sie sich in Fahrgemeinschaften organisiert haben. Nun will man ihnen aber auch diesen Notnagel mit einem Pkw-Verbot wegnehmen? Wir brauchen keine neue Mauer in den Köpfen sondern einen Dammbruch in unseren Gedanken, bei dem wir endlich darüber anfangen, neue innovative Verkehrsmittel zu fördern und nicht Überholtes einsperren.
Chancen für die Bürgergesellschaft
Jetzt kommen natürlich die Fragen nach den Alternativen. Ja, was, wenn nicht ein Pkw-Verbot? Ich sprach ganz bewusst von der vernetzten Bürgergesellschaft. Wir nutzen bereits heute schon unbewusst verschiedene Verkehrsmittel in unterschiedlichen Situationen, da wir das für ganz selbstverständlich halten. Wir organisieren uns Mitfahrer, wenn wir in einen anderen Ort fahren. Wir fahren mit dem Fahrrad bei schönem Wetter zum Bäcker. Wir nehmen den ÖPNV, wenn uns der Weg mit dem Auto zu stressig erscheint. Wir entscheiden uns niemals für ein Verkehrsmittel, sondern wählen immer aus Alternativen aus. Gut, wer im Winter Fahrrad fährt, der tut es aus Überzeugung, nimmt aber auch das entsprechende gesundheitliche Risiko in Kauf.
Viel klüger wären doch hingegen Modelle, in denen der Mehr-Personen-Pkw-Verkehr ganz bewusst gefördert wird und gleichzeitig die Zugangsmöglichkeiten zum Pkw maximiert werden. Als ersten Schritt sehe ich da die Ausweitung der Busspuren auch für Autos mit mehreren Personen an Bord. Im zweiten Schritt sehe ich dann noch eine aktive Unterstützung von innerstädtischen Fahrgemeinschaften. Das mobile Internet ermöglicht eine komfortable Organisation dieser Prozesse und spielt vielleicht in der Verkehrspolitik eine noch größere Rolle als jetzt. Erste Tests in den 90er Jahren sind in dieser Richtung gescheitert, weil es damals noch kein so öffentlich zugängliches Internet wie heute gab. Im dritten Schritt erreichen wir damit sogar eine fortschreitende Senkung der Autoquote auf 200 Pkw pro 1.000 Einwohner.
Um es mit Gorz' Worten zu sagen: ja, das Auto ist ein Luxusgut. Aber eins, das man mit der Gesellschaft teilen soll. Der soziale und wirtschaftliche Erfolg von Mietwagen, Fahrgemeinschaften und Carsharing spricht für sich. Innerstädtische Fahrgemeinschaften und bereits vorhandene Initiativen habe ich ganz bewusst „OpenTaxi” getauft in Anlehnung an den Begriff Open Source aus der Softwareentwicklung. Es ist kein alter Wein in neuen Schleuchen sondern eine konsequente Fortentwicklung unseres Bedürfnisses nach einem einfachen Zugang zu den Vorteilen eines Pkw. Der innerstädtische Mehr-Personen-Pkw-Verkehr soll eine der zentralen Aufgaben einer städtischen Verkehrspolitik sein. Ich bin für jede Initiative dankbar, die genau in die gleiche Richtung denkt. Dieses System sollte vielen Menschen zugänglich sein und es sollte möglicherweise auch die individuellen Anschaffungs- und Betriebkosten für Autos gen null tendieren lassen. Wenn wir Autos mit anderen teilen und gleichzeitig einen attraktiven ÖPNV erhalten,
Die Vernetzung und Weiterentwicklung vorhandender Verkehrsmittel hat in Zeiten von Smartphones und W-LAN-Hotspots oberste Priorität. Die Bürger warten auf konstruktive Alternativvorschläge. Gerade die Krise der S-Bahn öffnet echte Chancen für neue bürgerfreundliche öffentliche Fortbewegungskonzepte jenseits des ÖPNV. Wollen wir diese Entwicklung verhindern, in dem wir die Stadt einfach Pkw-frei machen? Es wäre Gift für den freiheitsliebenden Bürger, wenn wir ihn zur Nutzung des ÖPNV per Gesetz zwingen müssen.
Unser Berlin ist ein anderes als noch zu Zeiten der Ölkrise. Die Mauer verschwunden. Wir genießen volle Reisefreiheit. Unsere Autos sind nicht mehr so schädlich wie noch vor dreißig Jahren. Es gibt ohne Frage auch bei beim Pkw noch einen dringenden Handlungsbedarf. Erneuerbare Energien sollen sowohl bei der Herstellung und beim Betrieb von Autos zum Standard werden. Das Bedürfnis zum Verzicht auf Besitz und zum Verlangen der Teilhabe sollte mit adäquaten Modellen wie Carsharing und innerstädtischen Fahrgemeinschafte gefördert werden. Diese Bedürfnisse sind die Chancen der vernetzten Bürgergesellschaft. Eine Flotte mit 60 vollbesetzten Segelbooten ist für das Gemeinschaftsgefühl genauso wichtig wie eine Flotte mit drei vollbesetzten Riesenschiffen. Wie auch immer wir uns fortbewegen: Hauptsache, wir schaffen effiziente sparsame Verkehrsmittel. Davon profitieren alle.
Erschienen am 9. Februar 2010 im Piraten-wiki unter http://wiki.piratenpartei.de/Benutzer:Ideenflotte/Der_S_Bahn_Ring_darf_keine_Mauer_werden
Quellen:
„The Social Ideology of the Motorcars”
„Die Hauptstadt des umweltfreundlichen Verkehrs”
„Arbeitsgruppe Umwelt des Landesverband Baden-Württemberg der Piratenpartei”
„Initiative zum Verbot von privaten Pkw-Verkehr innerhalb des S-Bahn-Rings (benötigt Liquid-Feedback-Login)”