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BW:Stammtisch Mannheim/Piratenvortrag in HD
Vortrag Prof. Dr. Uwe Jun, Universität Trier
Die Piraten - Internet-, Bewegungs- und Protestpartei: Bedingungen und Ursachen des plötzlichen Aufstieges
04.06.2012 an der Uni HD
Während des Vortrags mitgetipptes Protokoll
- PP ist auch eine Protestpartei
- PP ist eine Bewegungspartei, aber Prof Jun sieht das kritisch
- PP wird nicht die FDP ersetzen können, aber PP ist fraglos sehr individualisiert
- Zuerst Entwicklung der Partei
- Internetpartei: Struktur und Kommunikation
- Bewegungspartei: Gesellschaftliche Anbindung
- Protestpartei: Zentraler Grund für elektoralen Erfolg
- Fazit
01.07.2006 in Berlin gegründet, Mitlieder aktuell knapp 30.000
2009 bot sich ein window of opportunity, in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit zu rücken durch Zugangserschwerungsgesetz von Ursula von der Leyen.
Piraten fanden das sehr ineffizient und forderten "Löschen statt Sperren"
Rascher Anstieg der Mietgliederzahlen um die BTW 2009
Um aus dem Block der "Sonstigen" zu treten braucht es schon 3%, bei BTW 2009 waren es nur 2%
Erst nachdem Infratest dimap sie in einer Umfrage bei über 2% sah (Abgeordnetenhaus Berlin) kam plötzlich die große mediale Aufmerksamkeit
Was ist das Lebenselixier der Piraten? Mediale Aufmerksamkeit, weil ohne ist es nicht möglich, größere Wählergruppen anzuziehen. Auch ein origineller pfiffiger Wahlkampf hat noch nicht entscheidend geholfen, erst die mediale Aufmerksamkeit. Prof Jun dachte auch zuerst, Abgeordnetenhauswahl in Berlin wäre ein Sonderfall, weil Berlin ein Stadtstaat ist und eine große Aktivistenszene dort hat.
Aber nach Berlin nahm das Interesse sprunghaft zu, Saarland, Schleswig-Holstein und NRW konnten Erfolge fortsetzen. Nach der Wahl im Saarland verhalf mediale Aufmerksamkeit zu sprunghaftem Anstieg von 5 auf 11% in der Sonntagsfrage. Mit abnehmender medialer Aufmerksamkeit sanken auch die Werte wieder. Soweit die wichtigsten Punkte.
Thema Internetpartei: "PP bringen Internet als Instrument in die Politik"
1) Inhaltliche Facette: PP machen Netzpolitik, hier haben PP konkrete Vorstellungen und Forderungen, es ist ein Fehler zu glauben, die PP hätten NUR dieses Thema.
- worum geht es den Piraten? Sie glauben, dass das Internet die Welt revolutioniert hat und dass die Politik das bisher zu wenig wahrnimmt.
- grundsätzlich stehen PP gegen Netzsperren jeglicher Art
- Urheberrecht soll so reformiert werden, dass freie Verwendbar- und Kopierbarkeit möglich ist
- PP wollen Einnahmen der Künstler aus Steuermitteln schaffen
- Reduktion der Patentierbarkeit und Kopierschutz
- präferieren Software, die frei zugänglich ist
- lehnen Internetfilter ab, freies Recht auf informationelle Selbstbestimmung
- treten für Anonymität im Internet ein
2) Organisation Facette: Zentraler Raum des Binnenlebens. Parteileben spielt sich wesentlich im Internet ab. Das meiste ist sogar für alle im Internet zugänglich, nur sehr wenige PP Seiten sind exklusiv für Mitglieder.
- Organisation ist internetbasiert
- Ziel ist Maximum an Partizipation und damit Basisdemokratie
- alle sollen an Willensbildung und Entscheidungsprozessen mitwirken
- PP sind gegen Form eines strategischen Zentrums, wollen dezentrale Strukturen
- Schwärme sollen gebildet werden um einzelne Themen
- Entscheidungsprozesse sollen so durchgeführt werden, dass jeder partizipieren kann
- aufgebaut auf Prinzip der Tranzparenz
- wollen Inklusion (möglichst viele sollen mitwirken)
- wollen Entgrenzung, d.h. keine Meinung darf pauschal ausgeschlossen werden
- Verzicht auf Hierarchien, Ämter werden nur für ein Jahr vergeben und grundsätzlich nur auf Mitgliederversammlungen
- lehnen Repräsentationsprinzip ab
- um all das möglich zu machen wurde "Liquid Feedback" geschaffen
- Grundidee des LF: Stimme und Meinung sollen ständig im Fluss gehalten werden
- die einzelnen können entscheiden ob sie selbst partizipieren oder ihre Stimme delegieren
- LF ist flexible Mischform von direkter und repräsentativer Demokratie
- Vorstände sind gehalten, stets in Rücksprache mit Basis zu agieren, sich an Meinungsbild der Basis zu halten
- Piraten wollen auch Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie außerhalb der Partei
3) Kommunikationsfacette: In den neuen sozialen Medien haben PP schon lange Sympathien.
- sind stark bei Twitter und Wiki vertreten, ein Pirat äußerte schon, ohne Internet würde Parteikommunikation zusammenbrechen
- hat bei Facebook und sozialen Netzwerken massiv Sympathisanten, meist mehr als alle anderen Parteien zusammen
- Seiten sind sehr kreativ gestaltet
- bisschen Hang zur Selbstdarstellung lässt sich konstatieren
- Zielgruppe: jung, gebildet und internetaffin
- wäre aber zu kurz gegriffen nur als eine Internetpartei darzustellen
- wollen auch offline mit Wählern in Kontakt treten und Präsenz zeigen
- Offlineaktivitäten haben gerade nach den Wahlerfolgen zunehmend Relevanz
- Crews sind themenbasierte Treffen, hauptsächlich von Mitgliedern
- Stammtische versuchen, auch Nichtmitglieder stark einzubeziehen
- auch mit originellen Wahlplakaten sehr präsent
Es gibt aber auch Nebenwirkungen, z.B. "Shitstorm" (~ z.T. unsachliche Form der Kritik)
- Konfliktaustragungsmechanismen sind schwach ausgeprägt, man muss sich schon relativ schnell mit unsachlichen Formen der Diskussion auseinander setzen
- geringer Frauenanteil (unter 20%), Partei versteht sich als post-gender
- PP betrachtet gender-Schlachten als Kämpfe der Vergangenheit
- Individualisierungstendenzen verstärken sich
- Berliner PP Abgeordnete brauchten schon zweimal einen Mediator
- trotz allem haben sich Flügel gebildet "Kernis" und "Vollis"
- Vollis haben Oberhand gewonnen, wollen über Internet hinaus zu allen Themebereichen Willensbildung betreiben
- Kernis wollten beim Internetthema bleiben
- Soziale Gerechtigkeit spielt große Rolle (BGE)
- BGE soll jedem ein auskömmliches Leben auch ohne Erwerbsarbeit ermöglichen
- Kostenloser Bildungszugang gehört zu Kernforderungen, keine Kitagebühren oder Studiengebühren
- fahrscheinloser ÖPNV, auch das diene der Selbstentfaltung damit man sich frei bewegen kann
PP als Bewegungspartei:
- PP ist explizit libertär ausgerichtet
- Selbstentfaltung steht im Vordergrund
- spricht sich gegen Koalitionsmodelle aus
- stehen den Grünen inhaltlich noch am nächsten
- Wähler und Mitglieder kommen oft aus grün-affinen Umgebungen
- Internet-Generation mit eigenen Lebensstilen
- Partei versucht, Gefühlslage der Internetgeneration zu treffen
- Altersstruktur der Wähler: v.a. Jungwähler, umso älter die Wählergruppe, desto weniger Piratenwähler
- Grünen waren ja v.a. eine Bewegungspartei (Frauenbewegung, Anti-AKW Bewegung, Friedensbewegung, Ökologiebewegung), Piraten sind weniger eine Bewegungspartei
- PP sind von der Bildungsstruktur sehr anders als die Grünen, kommen auch aus Gruppen mit Haupt- oder Realschulabschluss (Grafik sieht über die Bildungsabschlüsse recht gleichverteilt aus), Grüne sind vor allem Akademiker
- ist Ihnen eine personelle Figur bekannt? Am ehesten wohl Marina Weisband, ansonsten sind sie sehr wenig personenfixiert
PP als Protestpartei:
- Hälfte der Piratenwähler sind von anderen Parteien enttäuscht
- Piraten werden auf Welle der Enttäuschung getragen
- zuerst war es die FDP, dann profitierten Grüne von Enttäuschung, nun sind es PP
- PP haben Vorteile, weil unkonventionell und unverbraucht
- im Saarland und SH gab es Umfragen unter Wählern "Beenden Sie den Satz "Die PP wird hauptsächlich gewählt wegen..." und rund 80% sagten "wegen Enttäuschung von anderen Parteien"
- PP wählen vor allem jüngere, denn die großen Volksparteien haben die Jungen schon lange verloren
- schon bei männlichen Erstwählern war SPD schwächer als Piraten bei BTW 2009
Gründe für Erfolg bei Wahlen:
- gesellschaftliche Entwicklungen
- sehr hohe mediale Aufmerksamkeit
- neuartig und anders
- Neuer Politikstil
- "Klarmachen zum Ändern" (pfiffiger Slogan)
- spielerische Unprofessionalität (kommt sympathisch)
- Repräsentationsschwäche der etablierten Politik
- Prof Jun nennt es "spielerische Unprofessionalität", die etablierten Parteien sind sehr professionalisiert, auch deren Bürgerkontakt ist irgendwie steril professionell
Risiken der Parteientwicklung
- Partei ist nicht Ausdruck einer politisierten Konfliktdimension
- programmatische Beschränkungen
- sehr unstete Wählerbasis
- temporäre Begrenztheit von Neuem und Anderssein
- geringe Strategiefähigkeit
Der Leiter der Senatskanzlei von Wowereit sagte über PP "Unwissenheit ist nicht sexy". Prof Jun fürchtet, dass das Neue und Andersartige sich irgendwann abnutzt und dann nicht mehr viel übrig bleibt.