Praxisanleitung Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in Hessen

Version vom 30. Oktober 2021, 11:22 Uhr von imported>Dichter (Änderungen von Ujang (Diskussion) wurden auf die letzte Version von Dagobar zurückgesetzt)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)

Ich möchte im Folgenden einen kurzen Leitfaden zur praktischen Durchführung von Bürgerbegehren in Hessen vorstellen. Zuvor aber ein paar Gedanken, die mich in diesem Zusammenhang seit mindestens 2002 beschäftigen:

Ausgangsituation: Grundsatzprogramm der Piratenpartei erweitern oder nicht? Mal ehrlich, so wünschenswert eine "eierlegende Wollmilchsau" auch wäre - ist sie wirklich realistisch? Können wir wirklich auf alle Fragen kompetente Antworten geben? Kann das überhaupt jemand? Die anderen Parteien behaupten dies. Ich denke, sie überschätzen sich und ich denke, wir sollten das Problem ganz anders angehen: Laßt den Bürgern ihre Ansichten und gebt ihnen die Möglichkeit, diese auch zu vertreten. Bevormundet sie nicht länger. Nehmt ihnen nicht die Verantwortung ab. Sie wollen selbst entscheiden und nicht alle paar Jahre zum Wahlvieh degradiert werden. Die Wahlbeteiligung nimmt kontinuierlich ab und zwar genau aus diesem Grund. Ich wäre gerne direkt gefragt worden, ob die Bundeswehr in Afghanistan eingesetzt werden soll oder nicht. Du nicht auch? Ich würde gerne meinen Senf abgeben zum Thema Ausstieg aus der Atomkraft oder nicht. Wie steht es mit Dir?

Aus der Praxis: An diversen Ständen zur letzten Bundestagswahl, aber auch an den Ständen, die wir in Marburg nach der Bundestagswahl regelmäßig machen, um zu demonstrieren, daß wir eben nicht nur zu Wahlen aktiv werden, kommt immer wieder das Problem auf, daß Bürger sagen "Ja, das sind alles ganz, ganz tolle und wichtige Themen, aber das reicht mir nicht!" Dem begegne ich kosequent damit, daß ich dann erkläre, daß ich gerne möchte, daß der Bürger selbst entscheidet und nicht weiter die Entscheidung irgendwelchen unterbelichteten Politikerfunktionären überläßt. Oh - da wird aber aufgemerkt!

Nun bietet sich gerade hier in Hessen (aber auch anderswo) die wunderbare Gelegenheit, die hessische Volksbegehrengesetzgebung aufs Korn zu nehmen. Dort sind die Hürden (absichtlich wie ich unterstelle und diese "Alibigesetzgebung" sollte man wirklich mal thematisieren) so hoch angesetzt, daß sie (zumindest ohne Gewerkschaftsunterstützung) in der Praxis nicht realistisch nehmbar sind (ca. 130.000 Unterschriften). Ich hatte damit 2005 & 2006 selbst wegen eines von mir massgeblich mitinitiierten Volksbegehrens gegen die Privatisierung der Universitätsklinika Gießen & Marburg leidliche Erfahrungen in Theorie und Praxis sammeln dürfen...

Warum sollten wir als Piraten uns also das Thema Direktdemokratie nicht als eine der Primäraufgaben auf die Flagge schreiben?

  • Wir stärken glaubwürdig eines unserer Kernthemen, nämlich die Mitbestimmung der Bürger.
  • Wir lösen in effizienter Weise das Problem, unsere Programmatik auf viele weitere Themen ausweiten zu müssen, was zumindest meiner Ansicht nach letztlich immer unglaubwürdig sein muss (auch wenn ich persönlich der Ansicht bin, es müsste zumindest in einigen Bereichen noch etwas hinzukommen).

Nun das Eingemachte: Die Rechtsgrundlage zur Durchführung von Bürgerbegehren (BB) und Bürgerentscheiden (BE) in Hessen ist die Gemeindeordnung (HGO), hier insbesondere der § 8b HGO sowie die §§ 54-57 Kommunalwahlgesetz (KWG). Die müßt ihr euch genau ansehen.

Bürgerentscheide sind nicht zu allen Themen zulässig, jedoch durchaus auch zu Projekten, die Kosten verursachen und damit den Haushalt betreffen. Es ist ebenfalls möglich, eine Entscheidung der Stadtverordnetenversammlung (StVV) per BE aufzuheben. Hier aber Vorsicht: Es gelten dann Unterschriftensammelfristen (6 Wochen nach StVV-Beschlußfassung), die strikt einzuhalten wären. Im Fall einer Aufhebung eines StVV-Beschlusses ist dafür allerdings die Formulierung des BB natürlich einfacher, da sich der Text nur um die Aufhebung eines Beschlusses dreht. Problem: Wenn die Stadt bei solch einem Beschluß rechtliche Verbindlichkeiten eingeht, kann es zu ernsthaften Schwierigkeiten kommen. Man sollte also im Fall von Projekten mit hohen Finanzaufwendungen der StVV möglichst zuvorkommen.

Bürgerentscheide ersetzen Beschlüsse des Parlaments bzw. sind diesen gleichwertig - es ist, als würdet ihr selbst die Entscheidungsgewalt übernehmen. Ihr müßt eine mit Ja oder Nein zu beantwortende Frage formulieren (diese kann auch komplexer und aus mehreren Blöcken zusammengesetzt sein, z.B. spiegelstrichartig mit mehreren Unterpunkten) und eine genaue Form für das BB-Unterschriftensammelformular einhalten (ich werde hier bei Gelegenheit mal ein Muster verlinken). Das BB muß beim Magistrat der betroffenen Stadt schriftlich angemeldet werden. Die Bezeichnung ”Bürgerbegehren” bzw. ”Antrag auf Bürgerentscheid” mit dem Verweis auf die Rechtsgrundlage ”nach § 8 b HGO” sollte integriert werden. Das BB muß schritflich im Formular begründet werden (Form & Inhalt sind frei wählbar). Die Unterschriftenliste muß, sofern Euer Begehren Kosten verursacht, einen ”nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren” Finanzierungsvorschlag enthalten und mindestens eine und bis zu drei Vertrauenspersonen müssen mit Namen und Adresse angegeben sein. Auf jeder Unterschriftenliste muß der gesamte Text des Bürgerbegehrens mit allen Bestandteilen (Begründung, usw.) abgedruckt sein, denn dieser wird als Ganzes unterschrieben. Bei zweiseitigen Unterschriftensammellisten muß auf der zweiten Seite auf die Vorderseite verwiesen werden.

Wenn die Stadt eurem BB zuvorkommen und vollendete Tatsachen schaffen will, so kann man dagegen per Eilantrag eine aufschiebende Wirkung per Gerichtsurteil erwirken. Dies hat dann die Folge, daß die Stadt (bei erfolgreichem Urteil) bis zum Abschluß eurer Aktivitäten nichts machen kann.

Verfahren allgemein:

  • Ihr meldet euer BB ordnungsgemäß an und führt es durch. Dabei müßt ihr so lange Unterschriften sammeln, bis ihr 10% der Wahlberechtigten der letzten Kommunalwahl an Unterschriften habt (es dürfen nur Wahlberechtigte unterschreiben, d.h., sie müssen 18 Jahre alt sein und ihren Erstwohnsitz seit mindestens drei Monaten in Hanau haben; maßgeblich ist das Datum der Unterschrift). Erfahrungsgemäß sind etwa 5-10% der Unterschriften ungültig, also mindestens 15% mehr sammeln, als erforderlich. Ihr dürft die Unterschriftenlisten sehr wohl auch als Postwurfsendungen verteilen, müßtet das Formular dann allerdings mit einer gut sichtbaren gültigen Rücksendeadresse versehen.
  • Die betroffene Stadt stellt (hoffentlich) fest, daß ihr gegen keine formalen Regeln verstoßen habt und in der Tat 10% der Wahlberechtigten euer BB unterstützen: Es kommt zum Bürgerentscheid, den die Stadt binnen 6 Monaten an einem Sonntag durchführen muß.
  • Beim BE müssen zwei Bedingungen in Hessen erfüllt werden, um Erfolg zu haben: Erstens muß die Mehrheit der Abstimmenden im Sinne des BB entscheiden (>50%) und zweitens müssen mindestens 25% der Stimmberechtigten im Sinne des BB entscheiden.

Nehmen wir mal Marburg mit ca. 80.000 Einwonern und gut 50.000 Stimmberechtigten als konkretes Beispiel an. Es müßten also am Sonntag des Bürgerentscheids z.B. bei einer Gesamtteilnahme von 24.998 Stimmberechtigten und 12.499 Gegenstimmen mindestens 12.500 Stimmberechtigte (25%) für das BB stimmen, damit beide Bedingungen erfüllt wären.

Viel Erfolg, Nautilus 14:27, 24. Mai 2010 (CEST) Vorlage:HowTo