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Medikamentenzwang (Psychiatrie)

- Ein erschreckender Graubereich -

Deutschland in der Zwangsjacke der Psychiatrie

Die Zahl der Zwangseinweisungen in die Psychiatrie steigt in Deutschland drastisch - und dies, obwohl die ambulanten Behandlungsmethoden immer besser werden. W WIE WISSEN zeigt, wie schnell man in der geschlossenen Abteilung landen kann und fragt nach den Ursachen dieser Entwicklung.

Der Fall klingt unglaublich: eine Ärztin geht mit Ihrem psychisch kranken Sohn in eine psychiatrische Klinik. Dort bekommt sie aber keine Hilfe für ihren kranken Sohn, sondern landet stattdessen selber in der geschlossenen Psychiatrie - obwohl sie absolut gesund ist. Dabei hatte sie sich nur über die junge Aufnahmeärztin aufgeregt und nach dem Oberarzt verlangt.

"Dann kam der Oberarzt und hat sich dann aber auch irgendwie ganz merkwürdig benommen und sagte dann irgendwann zu meinem Sohn: die Mama - nein, die Mutti, behalten wir hier für 14 Tage und dem Sohn geben wir eine Fahrkarte und schicken ihn nach Hause", erzählt sie, "Und in dem Moment kamen dann Pfleger auf uns zugestürzt und haben uns festgehalten und dann wollte man uns Medikamente geben. Und ich sag: ich brauche keine Medikamente! Und dann hat man mir und meinem Sohn auch ganz hoch dosiert Haldol und Neurocil eingeflößt."

Das sind starke Psychopharmaka, die sie vollkommen außer Gefecht setzen. Mit der Fehldiagnose Manie kommt sie zwei Wochen lang in die geschlossene Psychiatrie, bevor ein Richter sie wieder freilässt.

Ihr Fall ist natürlich nicht typisch, sondern ein Extremfall. Aber er zeigt deutlich: Zwang wird mittlerweile sehr schnell und auch immer öfter angewandt.

Studie zeigt: Immer mehr Zwangseinweisungen

An der Uniklinik Göttingen wurde die Zahl der unfreiwilligen Zwangseinweisungen gerade untersucht. Die Ergebnisse von Prof. Peter Müller haben für großen Wirbel unter Deutschlands Psychiatern gesorgt. "In den letzten rund 10 Jahren haben unfreiwilligen Einweisungen sich verdoppelt", sagt der Psychiatrie-Professor, "Das ist deshalb erstaunlich, weil im Prinzip die Behandlungsmöglichkeiten in der Psychiatrie besser geworden sind. Man also eigentlich davon ausgehen müsste, dass die unfreiwilligen Einweisungen abnehmen und das Gegenteil ist der Fall."

Besonders häufig kommen alte, verwirrte Menschen gegen Ihren Willen in die Psychiatrie. Sie sind in den Kliniken und Heimen auch besonders oft von weiteren Zwangsmaßnahmen betroffen. So werden viele an ihr Bett fixiert, damit sie nicht stürzen und sich die Knochen brechen - so eine übliche Begründung. Und auch bei solchen Zwangsmaßnahmen gibt es in den letzten Jahren einen starken Anstieg.

Prof. Andreas Spengler, Psychiater und Direktor des Landeskrankenhaus Wunstorf: "Ich habe die Statistik angesehen, wie sich die Zahl der Fixierung und Bettgitter und dergleichen, die ja von den Vormundschaftsgerichten genehmigt werden müssen, aber erst seit 1992, entwickelt haben, und das ist ein steiler Anstieg. Und wir haben keine Studien darüber, was dahinter steckt, ob hier, die vor allem bei alten, verwirrten Menschen, auch in Heimen und auch in Wohnungen vollzogenen Fixierungen und Bettgitter immer nötig waren."

Warum, wie oft und wie lange solche Zwangsmaßnahmen eingesetzt werden, das weiß niemand genau. Es wird in Deutschland weder systematisch erfasst, noch kontrolliert. Überhaupt sind die Zwangsmaßnahmen bisher erstaunlich wenig untersucht:

- Wann ist Zwang - aus therapeutischen Gründen - sinnvoll?

- Wann sollte fixiert werden?

- Wann sollten Medikamente zwangsweise verabreicht werden?

- Welche Risiken und Nebenwirkungen haben Zwangsmaßnahmen?

All das ist bisher kaum erforscht.


Zwangsmaßnahmen bekämen keine Zulassung

Prof. Tilman Steinert, Psychiater im Zentrum für Psychiatrie "Die Weissenau" in Ravensburg, untersucht gerade systematisch die Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie mit einer internationalen Arbeitsgruppe. Er bringt es auf den Punkt: "Wenn Zwangsmaßnahmen ein Medikament wären würden wir dafür wahrscheinlich gar keine Zulassung kriegen, unter anderem weil die erforderlichen Daten nicht vorliegen und weil Wirkungsweise nicht untersucht ist."

Trotzdem gehört Zwang zum Alltag in der Psychiatrie und auch Kritiker wissen natürlich: Ganz zu vermeiden sind Zwangsmaßnahmen nicht. Und manchmal muss auch eine Zwangseinweisung sein - schlicht aus Sicherheitsgründen. Aber eben nur manchmal und nicht so häufig wie zurzeit.

Denn unter dem Trend zum schnellen Wegsperren leiden die Patienten. Zum Beispiel Cem (Name geändert), der neun Monate lang wegen seiner Schizophrenie in der geschlossenen Psychiatrie war, obwohl eine ambulante Therapie möglich gewesen wäre, wie ein Gutachten gezeigt hat. Er war also vollkommen unnötig monatelang eingesperrt. Sein normales Leben wurde dadurch zerstört.

"Das existiert absolut gar nicht mehr, was vorher war," sagt er, "Also meine Freunde, oder in Anführungszeichen Freunde, mit denen man mal losgeht, sich mal unterhält, mal Party macht, sich in der Stadt mal sieht - ist nicht mehr. Also die Menschen, die ich vor meiner Einweisung halt, mit denen ich abgehangen habe und so, und der Umkreis in dem Zusammenhang - er existiert nicht mehr."

Ambulante Versorgung wird schlechter

Jetzt wird Cem in einer psychiatrischen Tagesstätte betreut. Solche ambulanten Betreuungen werden aber immer öfter eingespart. Die ambulante Versorgung psychisch Kranker wird schlechter und deshalb müssen die Patienten öfter stationär in die Klinik - auch gegen ihren Willen. Ein Grund für den Anstieg der Zwangseinweisungen.

"Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle", sagt Prof. Peter Müller, "Das Eine: eine Einschränkung in ambulanten Behandlungsmöglichkeiten durch Kostendämpfung. Zum Zweiten hat der Gesetzgeber die so genannten Zwangseinweisungen erleichtert, d. h. die Hürde, dass ein Arzt so etwas anstößt oder das Ordnungsamt das beschließt, ist geringer geworden."

Wie erschreckend niedrig diese Hürden sind, zeigt der Fall der Ärztin, die sogar eingewiesen wurde, obwohl sie gesund war. Dieser Extremfall zeigt drastisch wie dringend verbindliche Regeln gebraucht werden.

"Der Psychiatrie täten einheitliche, klare Leitlinien, die auch genug Handlungsspielraum lassen, individuell genug gehandhabt werden können, sehr gut", sagt Prof. Andreas Spengler. "Weil sie mehr Rechtsicherheit schaffen würden, für die praktische Anwendung und weil sie auch überzeugender der Justiz gegenüber klar legen würden, wann wenden wir, weil es nicht mehr anders geht wirklich Zwang an und wann tun wir es nicht."

Im Fall der Ärztin war die Zwangseinweisung ganz sicher nicht gerechtfertigt - dafür braucht es keine Leitlinien. Aber in den vielen schwierigen Grenzfällen könnten klare Leitlinien für alle mehr Sicherheit bringen.

(Autor: Patrick Hünerfeld) (ARD 20.7.05)


Könnte jemand mal klären ob die ganze Seite nur der Artikel ist? -- Access 05
12, 9. Jan. 2010 (CET)



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