Benutzer:Nihiltechno/BPT2010.1LiquidDemocracy

Rede zum Bundesparteitag 2010.1

Piraten!

ich bin Basispirat, habe keine Ämter inne, arbeite nicht in Hinterzimmern und möchte gerade deshalb für Liquid Feedback werben. Denn ich genieße das Privileg, die Berliner Instanz von Liquid Feedback zur täglichen Meinungs- und Willensbildung nutzen zu können.

Meine Hoffnung ist, dass ich die Bedenken entkräften kann, die um Liquid Feedback kursieren, und zwar im Einzelnen: Erstens Probleme mit dem Datenschutz, zweitens Delegationsketten und drittens die Entwertung der Arbeit von AGs und Squads. Auf diese Themen werde ich zu sprechen kommen.

Ich wünsche unserer Partei, dass wir erstens Liquid Democracy auch auf der Bundesebene einführen und dass wir zweitens einen Vorstand wählen, der den Basiswillen verkündet und seinen Teil dazu beiträgt, die Entscheidungen der Basis umzusetzen.

Ich sehe die Piratenpartei in den nächsten Jahren in der Regierungsverantwortung, vielleicht in einer rot-grün-orangenen Koalition. Dies ist unsere Chance, einer Regierung piratische Prägung zu geben - denn dafür bin ich überhaupt Mitglied einer Partei - und nicht nur mit Themen wie Datenschutz und Transparenz und Werten wie Freiheit und Chancengerechtigkeit.

Doch Themen und Werte und gute Ideen haben andere auch, und wir müssen aufpassen, dass unsere Forderungen nicht einfach von anderen Parteien absorbiert und wir als Partei überflüssig werden, weil wir bei den Kernthemen Datenschutz und Überwachungsstaat stehengeblieben sind.

Denn wir haben mehr zu bieten, und wir sollten nicht nur unseren Kernthemen und Idealen verpflichtet bleiben, sondern auch anderen Parteien ein Angebot machen und vorleben, was wir unter Demokratie verstehen. Und bevor wir anderen etwas vorleben und anbieten können, müssen wir den Beweis angetreten haben, dass wir unsere Ideen zunächst in den eigenen Reihen umsetzen können. Wir haben freiheitliche Geister in unseren Partei, die Konzepte für eine fortschrittliche, effiziente Form von Demokratie ausarbeiten und diese Konzepte auch implementieren können. Diesen Vorsprung sollten wir nutzen.

Es geht mir darum, eines Tages mit einem Regierungsauftrag in einer von so tiefem Ernst und von so großem Verantwortungsbewusstsein getragenen Weise umzugehen, wie das noch nie vorher in dieser Demokratie der Fall war.

Ich bin freiheitlicher Demokrat. Wenn mein Staat eine Regel aufstellt oder mir eine Entscheidung auftischt, dann soll er dafür nicht nur legitimiert sein, sondern es sollen mir dafür sehr gute Gründe genannt werden. Ich sehe den Staat in einem ständigen Rechtfertigungszwang, weil er in mein Leben und das meiner Mitbürger eingreift.

Doch was bedeutet das für uns, wenn wir einmal in Regierungsverantwortung sein sollten? Es bedeutet, dass wir Gesetze machen werden. Ich hoffe, dass euch allen klar ist, was es bedeutet, Gesetze zu machen: Die Exekutive muss unsere Mitbürger notfalls mit Gewalt dazu zwingen, unsere Regeln zu befolgen und unsere Gesetze einzuhalten. Dann ist Staat nicht mehr nur die hässliche Fratze von Zensursula und Stasi 2.0, dann sind auch wir Staat, und wir müssen uns rechtfertigen und diese verdammt guten Gründe für unsere Polemik und unser Tun vorlegen.

Für Liquid Democracy steht daher für mich in der Güterabwägung Transparenz vor Datenschutz. Wer Ideen entwickelt, die anderen Menschen eines Tages als Gesetze dienen sollen, sollte diesen Prozess so transparent wie möglich gestalten - so transparent, wie es Wissenschaft und Technik eben hergibt. Nur wenn sich lückenlos nachvollziehen lässt, wie Ideen, Programme und Gesetze entstehen, reifen und sich weiterentwickeln, lässt sich aus Fehlern lernen.

Vor systemischen Eigenschaften gibt es kein Entkommen. Ein offenes Datennetz vergisst nichts, und ebensowenig wie das Internet etwas vergisst, können wir erwarten, dass wir mit Liquid Democracy vollkommen anonym und bei vollem Schutz unserer Privatheit arbeiten können. Eine Wahlmöglichkeit informationeller Selbstbestimmung sollte es sein, dass wir mit unserem Tun anonym bleiben können. Eine andere Wahl ist es, Politiker zu werden. Beides zusammen geht nicht. Wer sich auf eine Kiste in einen Park stellt und eine Rede hält, wird gehört, ist aber nicht anonym. Und die Arbeit in einem LD-Tool kann nicht anonym sein, wenn es Staat ist, was wir dort machen.

Liquid Democracy ist Abbild eines fließenden Übergangs von vollständig repräsentativer zu Basisdemokratie, und dies in mehreren Dimensionen - der Übergang ist auch mit den Themen und auf der Zeitachse fließend. Nur wenn man nicht abstimmt, wandert die eigene Stimme zusammen mit den eingehenden Delegationen an den nächsten Delegationsempfänger. Die dabei gebildete Struktur wird von Informatikern Graph genannt. Es funktioniert so, dass Person A die Stimme in einem Themenbereich an Person B delegieren darf, in einem anderen Themenbereich an Person C, und für alle anderen Themen an Person D. Darf, wohlgemerkt. Person B, C und D dürfen dasselbe tun. Deren Delegationen können ohne Weiteres auch wieder bei Person A landen, und in der Praxis kommt das vor. Wer sich in der Lage sieht, alle Themen zu lesen, zu bearbeiten und abzustimmen, betreibt automatisch die reinste Form von Urabstimmung. Wer sich dazu nicht in der Lage sieht, darf seine stimme delegieren. Darf, wohlgemerkt, und nur bei fortgesetzter Unterlassung können sich Stimmen überhaupt aufsummieren, das sollte jedem Kritiker klar sein.

Der dritte Einwand, den ich entkräften möchte, ist, dass Liquid Feedback die Arbeit unserer Fachausschüsse AGs und Squads entwerte, weil Einzelkämpfer, die gut schreiben können, schwer vermittelbare Themen kapern und mit gut formulierten, aber flachen oder sogar populistischen Inhalten besetzen könnten. Der Betrieb in Berlin hat gezeigt, dass eine populistische Initiative keine Chance hat: In einem bereits besetzten Thema ist sie hoffnungslos unterlegen, in einem unbesetzten Thema ruft sie Gegeninitiativen auf den Plan. Dort wirkt sie geradezu wie ein Katalysator für tagespolitische Positionen.

Um den weniger gefährlichen, da flachen (und zugleich gut formulierten) Positionen entgegenzutreten, haben wir nur diese Möglichkeit: schneller sein als die Einzelkämpfer, sich vernetzen, zusammenarbeiten, aus Fehlern lernen. Die Arbeit im realen Leben an Stammtischen und im Plenum ist durch nichts zu ersetzen. Unbekannte Einzelkämpfer, die sich nur zuhause vorm Rechner den Kopf zerbrechen und exzellente Initiativen entwerfen, kann es theoretisch geben, und auch ihnen bietet die Piratenpartei einen Platz, aber nur, wenn sie genial sind - und die übrigen Piraten nicht mit unpraktikablen Anträgen nerven.

Ich bitte euch um eure Unterstützung! Lasst uns einen Vorstand wählen, der verspricht, Liquid Feedback oder ein anderes, nachweislich funktionierendes LD-tool auf Bundesebene einzuführen, und der bereit ist, als Marionette an den Fäden der Parteibasis zu tanzen. Dies sehe ich ganz im Sinne einer offensiven und zugleich sachlichen Vorstandsarbeit - denn ein Vorstand, der sich als Sprachrohr der Basis versteht, daran innerparteilich gemessen wird und dies als Ganzes nach außen vertritt, kann sich als Person aus der Schusslinie nehmen, denn auch die Fehler, die wir machen, ruhen dann auf den Schultern aller Piraten. So können wir in der Bundespolitik vorankommen.

Timm / Nihiltechno Crew Seetiger / Berlin http://bit.ly/cEdASE