Benutzer:Bzapf/politisches Portfolio/Nicht meine Rede

Ich bin aufgrund der Grundrechte zur Piratenpartei gekommen. Es gab da mal so eine Aktion, das wird 2009 gewesen sein, da wurde vorge-schlagen, Teile des Grundgesetzes an einem öffentlichen Platz laut zu verlesen. Ich habe den Marktplatz in Marburg gewählt. Wie zu erwarten war, erweckte mein Vortrag nicht die geringste Aufmerksamkeit. Liest halt einer die Verfassung vor, na und? Die Leute gingen ihre Wege, scherten sich nicht um den Langhaarigen, der da einen Text aus einem weißen Büchlein vorliest. Am Ende meines Vortrags blieb nur einer stehen um zu fragen, was das alles sollte: Ein Junge, vielleicht 6 Jahre alt.

"Wir gründen eine Partei." sagte ich ihm, und dass man so etwas wohl gelegentlich tun müsse. Dann habe ich ihm mein Exemplar des Grundgesetzes geschenkt (womit er wohl noch nichts hat anfangen können) und auch ihn seine Wege ziehen lassen.

Unsere Verfassung (und vergleichbare Dokumente: die Hessische, das Grundgesetz und die Erklärung der Menschenrechte) sprechen von der totalen Minderheit, vom einzelnen. Was sind die Grenzen, die einem jeden einzelnen gesetzt werden müssen? Was können wir einander zumuten, und was müssen wir tolerieren?

Einige dieser Grenzen sind bekannt und nicht oder nur schwer zu ändern. Andere sind vage und abhängig vom Gefühl, wurden vielleicht nie auch nur gesteckt. Wieder andere werden immer wieder neu verhandelt. Dieses Gebiet der Verhandlung nennen wir Politik.

Ich habe mich in den letzten Jahren so intensiv mit diesem etwas seltsamen System "Parlamentarismus" befasst wie nie zuvor. Soll das etwa Demokratie sein? Geht es nicht viel einfacher?

Ich habe mich mit unseren kommunalen Parlamenten auseinandergesetzt. Auch dort funktioniert dieses System wie anderswo auch: Man streitet, äußert sich unverbindlich, klopft Meinungen ab, könnte mal handeln - und "ganz plötzlich" erlaubt der Kreistag einstimmig Film- und Tonaufnahmen. Seien wir doch mal ehrlich: 2013 als Kreistag noch Kamerascheu zu sein, ist höchstens peinlich.

Im Marburger Studierendenparlament, auch im AStA, greifen ähnliche Mechanismen. Niemand dort regiert eiskalt durch. Alles ist Verhandlungssache, alles muss abgesichert werden, ist auf die Zustimmung vieler angewiesen. Manchmal maßt sich jemand zuviel an, dann stutzen die anderen ihn zurecht. Niemals aber zerbricht das System.

Das alles ist nicht so seltsam, wie es scheint. Im Gegenteil. Es ist kalkuliert. Das System Parlamentarismus überlebt. Das ist sein Zweck. Es ist eine Kombination aus Mechanismen, die vorhersehbare Unglücke, wie etwa das Abrutschen in eine Diktatur oder die Untreue der Mächtigen, zu vermeiden sucht.

Die Vorboten dieser Unglücke sehen wir deutlich. Wo immer ein Gefangener geschlagen wird, wo eine Kamera beschlagnahmt wird, läuft uns ein Schauer über den Rücken. Ist das nicht wie damals oder wie drüben? Wollen wir das? Können wir dieses anscheinend übermächtige und willkürliche System wirklich verbessern? Wollen wir uns mit Menschen anlegen, die so etwas tun?

Wir müssen sogar. Wir müssen sagen: Sie könnten der Polizei beibringen, dass man nicht einfach Kameras beschlagnahmt. Wenn Sie sich nicht in der Lage sehen, Gefangene zu behandeln wie jeden anderen Menschen auch, wer sollte es dann tun? Was haben Sie da nur für Menschen angeworben?

Wir müssen unsere Vorbehalte gegen die Regierung wenden. Nur so kann aus ihnen Kritik erwachsen, nur so können wir aufrichtig über das geschehene reden. Nur so können wir vielleicht etwas verbessern.

Ich persönlich habe mir neben illegaler Polizeigewalt (einem sehr einfach zu argumentierenden Thema: Es handelt sich im Grunde um Verbrechen) die Schulen als Thema ausgesucht. Nicht nur, weil die Digitalisierung unser Verständnis von diesen Dingen auf den Kopf stellt, sondern eben auch, weil diese Schulen (immer: unter den heutigen Voraussetzungen) einen wesentlichen Eingriff in unsere Grundrechte darstellen. Einen völlig übermäßigen noch dazu.

In der Schulforschung wird mittlerweile das Problem untersucht, wie es sein kann, dass eigentlich selbstverständliche Verbesserungsvorschläge anschienend auf taube Ohren stoßen. Das erscheint als Treppenwitz. Sie könnten es doch auch so oder so machen! Sie sind beim Alten geblieben? Fragen wir uns erst einmal, warum....

Experimentieren wir. Lasst uns Schulversuche anberaumen. So viele, wie nötig. Lasst uns wegkommen von der alten "Grammatik" von Schule, die in weiten Teilen im Korsett unnützer Gesetze gefangen scheint. Man hat die Schulen so weit wie denkbar vereinheitlicht, hat aber scheinbar übersehen, dass die Menschen, die sie Nutzen wollen - ob nun als Lernender oder als Lehrender, durchaus ganz unterschiedliche Wege im Sinn haben könnten, dasselbe zu erreichen.

Nur, wenn wir so auf das Problem zugehen, wenn wir sagen: wir wollen den Raum erweitern, haben wir überhaupt die Möglichkeit, hier zu argumentieren. G8 oder G9 (oder die "freie Wahl" zwischen beiden Möglichkeiten) kann jeder fordern, dazu braucht es keine Piratenpartei, auch kein Parlament, die Antwort auf diese Frage könnte man einfach mit einer Volksabstimmung finden. Es handelt sich schlicht um ein falsches Dilemma. Es gewinnt nur der, der die Frage aufwirft.

Die Piratenpartei braucht es, um neben den althergebrachten Symptombekämpfungsversuchen (von mir gelegentlich scherzhaft "Gliedrigkeiten und Jährigkeiten" genannt) an die Ursache des Problems zu gehen, und diese scheint mir nach wie vor darin zu liegen, dass hier eine Tätigkeit, die natürlicherweise in vielen unterschiedlichen Formen geschieht, nämlich das Lernen, auf eine einzelne, ganz eng beschränkte Form reduziert wird. Das ist es, was man wohl meint, wenn man "Grammatik von Schule" sagt.

Wir haben ein gewaltiges Potential zur Verfügung, solche Spannungsverhältnisse zwischen verschiedenen Ebenen der Diskussion aufzufinden und zur Sprache zu bringen. Die Diskussion und sogar der Streit darüber ermöglichen es, sie zu erfassen und möglicherweise zu lösen. Davon, diese Methode zu entwickeln, zu erklären und dazu zu ermutigen, wird unsere Politik leben.