Benutzer:Miriam/Schulze-Verfahren-negative-Praeferenz

Sollte man auch Nein-Stimmen in eine Präferenzreihenfolge bringen können?

Quelle: Liquid Feedback PIRATEN Berlin https://lqpp.de/be/initiative/show/958.html

Zunächst einmal folgender Hinweis:

Im Bereich „Zustimmung: Nein“ keine Präferenzen angeben zu können, heisst NICHT, dass die eigene Stimme in Bezug auf die Präferenzreihenfolge unberücksichtigt bleibt! Der Antragstext regelt bereits jetzt: „Kandidaten, die bezüglich der Frage der Zustimmung eine Ja-Stimme erhalten haben, gelten hierbei als präferiert gegenüber Kandidaten, bei denen die Frage der Zustimmung mit Nein oder Enthaltung beantwortet wurde. Weiterhin gelten Kandidaten, die bezüglich der Frage der Zustimmung eine Enthaltung erhalten haben, als präferiert gegenüber Kandidaten, bei denen die Frage der Zustimmung mit Nein beantwortet wurde.“

Grundsätzlich ließe sich das Verfahren trotzdem so erweitern, dass man bei Nein-Stimmen UNTERSCHIEDLICHE Präferenzen vergeben kann. Für den Fall, dass man das Verfahren nicht für Personenwahlen sondern für Abstimmungen über Anträge verwendet, lässt sich ein ähnlicher Effekt dadurch erreichen, dass man eine zusätzliche Wahloption „alles so lassen wie es ist“ vorsieht. Das Bereitstellen einer solchen Wahloption kann im Zweifelsfalle durch Stellen eines entsprechenden Antrags auf der Versammlung erfolgen. Auf den Gebietsversammlungen in Mitte und Neukölln wurde bei der Wahl des Direktkandidaten ähnliches praktiziert: Es gab die zusätzliche explizite Wahloption „keinen Direktkandidaten aufstellen“.

Sieht man im Falle von Listenaufstellungen unterschiedliche Präferenzen bei Nein-Stimmen vor, so ergeben sich verschiedene Vor- und Nachteile:

Vorteile, wenn auch bei Nein-Stimmen eine Präferenz vorgesehen wird:

  • Die Abstimmenden sind weniger geneigt, einer Wahloption, die das "geringere Übel" gegenüber einem anderen Kandidaten darstellt, nur deshalb eine Enthaltung oder Zustimmung zu geben, um damit die Aufstellung des anderen Kandidaten an vorderer Listenpositition zu verhindern.

(Hinweis: Dieser Effekt lässt sich auch bei unterschiedlichen Präferenzen für Nein-Stimmen nicht gänzlich vermeiden, auch hier immer noch ein Vorteil entstehen kann, einem “geringeren Übel“ eine Zustimmung zu erteilen. Die Präferenzwahl wertet diese Zustimmungen aber im Gegensatz zum Approval-Voting nicht genauso wie die Stimme für den eigentlichen Wunschkandidaten.)

  • Detailiertere Wünsche in Bezug auf Kandidaten, die man selbst ablehnt, können trotzdem berücksichtigt werden. Dies spielt dann eine Rolle, wenn man mehrere Kandidaten abgelehnt hat, die von der Mehrheit in die Liste aufgenommen wurden, und man den aufgenommenen Kandidaten untereinander unterschiedliche Präferenzstufen zugewiesen hat bzw. zuweisen würde.

Nachteile, wenn auch bei Nein-Stimmen eine Präferenz vorgesehen wird:

  • Der Stimmzettel ist komplizierter zu erklären und/oder muss wesentlich mehr Felder zum Ankreuzen aufweisen.
  • Die Wähler werden nicht gehalten, nur den Kandidaten eine Ablehnung zu erteilen, die man tatsächlich für ungeeignet hält. Dies hat folgende Konsequenzen:
  • Die Liste könnte sehr kurz (oder leer) werden, wenn viele Abstimmenden einen Großteil ihrer persönlichen Präferenzreihenfolge im Bereich „Zustimmung: Nein“ vermerken. Dies entspricht dann zwar formal dem Wählerwillen in Bezug auf jeden einzelnen Kandidaten, kann in der Praxis aber ein unbefriedigendes Gesamtergebnis darstellen, welches von der Mehrheit wiederum nicht gewünscht war.
  • Bei der Aufstellung von Listen bietet sich einfacher die Möglichkeit, unliebsame Konkurrenten "aus dem Rennen zu werfen", in dem man diesen eine Nein-Stimme gibt, OBWOHL man sie gegenüber einer Menge anderer Kandidaten immer noch in der Liste haben möchte. Auch dies begünstigt die Bildung einer sehr kurzen oder leeren Liste.
  • Es ergibt sich eher eine Situation in der Kompromissbereitschaft bestraft werden kann: Teilt sich die Wählerschaft z.B. in 3 gleich große Gruppen, die nur unterschiedlichen Kandidaten zustimmen, dann gewinnt keiner die Wahl, weil kein Kandidat mehr als ein drittel Stimmen auf sich vereinigen kann. Die Liste bleibt also leer. Zeigt eine der 3 Gruppen Kompromissbereitschaft und vergibt auch Zustimmungen niedriger Präferenz für andere Kandidaten, dann ergibt sich ein Ergebnis, in dem alle Kandidaten gewählt sind, AUSSER denen, die von den kompromissbereiten Wählern bevorzugt wurden. Dieses Problem verstärkt sich, wenn man versucht das Problem einer zu kurzen Liste durch mehrere (die Liste verlängernde) Wahlgänge zu kompensieren:

Beispiele

Angenommen unterschiedliche Präferenzen sind auch bei Nein-Stimmen möglich und zusätzliche Wahlgänge sind vorgesehen, um eine zu kurze Liste nachträglich verlängern zu können. Sei weiterhin angenommen, dass es drei Kandidaten A, B und C gibt und sich die Wählerschaft in 3 gleich große Teile spaltet:

Ein Drittel möchte am liebsten Kandidat A, gefolgt von B, gefolgt von C und stimmt allen außer C zu. Ein weiteres Drittel Wähler möchte am liebsten Kandidat B, gefolgt von A, gefolgt von C, stimmt auf dem Wahlzettel aber nur Kandidat B zu und markiert die Kandidaten A und C mit einer Nein-Stimme. Das letzte Drittel der Wähler möchte am liebsten Kandidat C, gefolgt von A, gefolgt von B und stimmt dabei nur Kandidat C zu und lehnt die Kandidaten A und B ab.

  • 33%: A lieber als B lieber als C, dabei Zustimmung für A und B, Ablehnung für C
  • 33%: B lieber als A lieber als C, dabei Zustimmung nur für B und Ablehnung für A und C
  • 33%: C lieber als A lieber als B, dabei Zustimmung nur für C und Ablehnung für A und B

Kandidat A wird zwar sowohl von einer Mehrheit gegenüber Kandidat B, als auch von einer Mehrheit gegenüber Kandidat C bevorzugt. Trotzdem scheidet Kandidat A aus und Kandidat B gewinnt als einziger Kandidat den Wahlgang. In folgenden Wahlgängen kann die Liste zunächst mit dem Kandidaten A, anschließend ggf. noch mit dem Kandidaten C aufgefüllt werden. Es ergibt sich dann folgendes Gesamtergebnis:

  • B
  • A
  • evtl. C

Die zweite Wählergruppe konnte durch Ablehnung ihres Zweitwunsches im ersten Wahlgang den eigenen Wunschkandidaten an erste Stelle befördern. Wäre die erste Wählergruppe genauso vorgegangen, gäbe es im ersten Wahlgang keinen Sieger. Ändert die dritte Wählergruppe niemals ihre Meinung, dann wird diejenige der ersten beiden Wählergruppen benachteiligt, die zuerst in einem Wahlgang bereit ist, ihrem Zweitwunsch eine Ja-Stimme zu geben. Kompromissbereitschaft wirkt sich für die ersten beiden Wählergruppen dieses Beispiels also negativ in Bezug auf die eigenen Wahlwünsche aus. Besonders drastisch zeigt sich dieser Effekt, wenn die erste Wählergruppe bereits im ersten Wahlgang bereit ist, allen Kandidaten eine Ja-Stimme zu geben:

  • 33%: A lieber als B lieber als C, dabei Zustimmung für alle Kandidaten
  • 33%: B lieber als A lieber als C, dabei Zustimmung nur für B und Ablehnung für A und C
  • 33%: C lieber als A lieber als B, dabei Zustimmung nur für C und Ablehnung für A und B

In diesem Falle gewinnen zunächst B und C und ggf. wird in einem zweiten Wahlgang Kanididat A nachgeschoben:

  • B
  • C
  • ggf. A

Der eigentliche Wunschkandidat der ersten Gruppe gelangt bestenfalls in einem weiteren Wahlgang auf Platz 3 und das OBWOHL bereits im ersten Wahlgang eine Mehrheit Kandidat A gegenüber Kandidat B und eine Mehrheit Kandidat A gegenüber Kandidat C bevorzugt hat!

Von vornherein mehrere Wahlgänge vorzusehen, ermöglicht es den Abstimmenden sich an Mehrheiten "heranzutasten", also auszuprobieren, wie kompromissbereit man sein muss. Dies mag im Rahmen der Spieltheorie zwar hochinteressant sein, stellt jedoch Extra-Arbeit für die Wahlhelfer dar und ermutigt zu taktischem Verhalten.