BE:Parteitag/2009.2/Eindrücke

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Eindrücke vom Landesparteitag Berlin am 1.Juli 2009

Schreibt ruhig eure Eindrücke auch hier rein, wenn ihr mit dabei wart, oder nutzt die Diskussionsseite, wenn ihr nicht dabeiwart.

Eindrücke von Benutzer:Pavel

Der Landesparteitag fand improvisiert auf der Tanzfläche in einer Karaoke Bar statt, die zwar bereits deutliche Gebrauchsspuren aufwies, aber dankenswerterweise spontan und kostenlos zur Verfügung gestellt worden war, als vor zehn Tagen auf den letzen Drücker eine Adresse für die Einladung her musste. Am Abend des Vortags hatte ich erfahren, dass es dort kaum Sitzplätze gibt, daher hatte ich zehn Biergarniturbänke mitgebracht, so dass wir dann überraschenderweise fast alle sitzen konnten.

Der Raum war gut gefüllt, es waren insgesamt 60-70 Leute da, 48 Berliner Parteimitglieder, Pressevertreter, ein Fernsehteam und Besucher.

Es waren viele Mitglieder da, die ich zum erstenmal gesehen habe, und es war eine bunte Mischung von Leuten mit unterschiedlichsten gesellschaftlichen und kulturellen Hintergründen, die sich da versammelt hatte, sofern man aus Kleidung und Frisuren Rückschlüsse ziehen möchte. Es waren deutlich mehr Männer als Frauen anwesend.

Die Registrierung der Mitglieder zog sich hin, so dass die Versammlung erst gegen 19:30 eröffnet wurde.

Während der Versammlung lief dann bereits der Barbetrieb, so dass im Hintergrund ständig Musik zu hören war.

Wichtigster Tagesordnungspunkt war die Entscheidung, ob Direktkandidaten für die Bundestagswahl aufgestellt werden sollen; wäre dies positiv entschieden worden, hätten sich die Kandidaten vorgestellt, über die dann abgestimmt worden wäre.

Zu Beginn fasste der Vorstand den Stand der im Vorfeld gelaufenen Diskussion zusammen. Dabei hatte sich bei vielen Leuten erst in den letzten Tagen ein Meinungswandel vollzogen, die zuvor Direktkandidaten für Berlin abgelehnt hatten, was unter anderem mit dem starken Zulauf und vermehrten Engagement von Mitgliedern in den letzen Tagen zusammenhing.

Eine nach kurzer Diskussion abgefragtes Meinungsbilds ergab dann auch eine klare Mehrheit für Direktkandidaten.

Erstaunlicherweise hatten sich dann im Verlauf der Diskussion auch zwei Direktkandidaten vehement gegen Direktkandidaturen ausgesprochen und auf der Sitzung verkündet, dass sie nicht zur Verfügung stehen. Das fand ich etwas befremdlich und fragte mich, ob sie sich das nicht auch hätten vorher überlegen können, statt ihren Rückzug publikumswirksam zu inszenieren. Ich meine auch, dass sie ihren Rückzug erst nach dem positiven Meinungsbild bekanntgegeben haben.

Die vorgebrachten Argumente gegen Direktkandidaten, an die ich mich erinnern kann, waren:

  • Die Sammlung von Unterstützerunterschriften für Brandenburg wird durch das parallele Sammeln für die Direktkandidaten leiden
  • Viele Kandidaten sind in Partei zu unbekannt, man weiss nicht, was man sich möglicherweise einhandelt
  • Die Kandidaten wissen nicht, was auf sie zukommt und werden gnadenlos untergehen
  • Die Partei wird sich übernehmen und verschleissen
  • Die Stimmen für die Direktkandidaten werden zu Lasten von SPD, Grünen und FDP gehen und möglicherweise CDU-Kandidaten zum Sieg verhelfen
  • Wir sind zu klein, es ist zu aussichtlos und zu früh, die Grünen haben keine Direktkandidaten aufgestellt, bevor sie mehr als 10.000 Mitglieder hatten

Die Argumente für Direktkandidaten waren:

  • Wir müssen den vorhandenen Schwung jetzt nutzen
  • Es wird Last von den Spitzenkandidaten nehmen, die bereits jetzt hart unter Druck stehen
  • Die Direktkandidaten werden zusätzliche Unterstützung mobilisieren und nicht nur vorhandene Kraft abziehen; es ist kein Nullsummenspiel
  • Die Direktkandidaten bieten eine viel grössere persönliche Kontaktfläche für die Öffentlichkeit
  • Die Partei bekommt mehr Gesicht
  • Es wird uns zusätzliche Kraft geben

Des weiteren wurden Gegenargumente gegen die Gegenargumente vorgebracht:

  • Warum sollten wir irgendeine Partei schonen; die anderen werden sich nur dann unserer Positionen annehmen, wenn es wehtut
  • Die Unterstützung für Brandenburg ist derzeit eh marginal, weniger kann es kaum noch werden
  • Die Brandenburger haben nicht um unsere Hilfe gebeten

Zwischendurch gab es dann noch einen Walk-In von etwa 15 Leuten der Bergpartei, die einen stinkenden Fisch und eine Herausforderung zu einer Wasserschlacht überbracht haben.

Ich persönlich hatte meine Argumente nur einmal zu Beginn der Diskussion vorgebracht und nach dem ersten positiven Meinungsbild darauf verzichtet, die Diskussion weiter mit zusätzlichen Argumenten zu verlängern, was ich im Nachhinein bedauere.

Bei der Abstimmung wurde dann sehr knapp mit 22:20 Stimmen gegen die Aufstellung von Direktkandidaten entschieden.

Im Anschluss wurde dann noch das neue Crewkonzept vorgestellt.

Meine Haltung

Ich bedauere den Sieg der Vernunft über die Leidenschaft an dieser Stelle und bin sehr enttäuscht, dass wir Hauptstadtpiraten nicht den Mut aufgebracht haben, die Chancen zu nutzen und der Gefahr ins Auge zu blicken.

Strategisch ist die Entscheidung vielleicht klug, taktisch aber meiner Meinung nach ein schwerer Fehler. Sie berücksichtigt nämlich nicht die Dynamik, die sich derzeit in der Partei abspielt. Während wir heute vielleicht wirklich zu klein dafür sind, dürfte das in einigen Wochen ganz anders sein.

Für mich und die anderen Direktkandidaten ist die Gelegenheit vertan, jetzt unsere Fehler zu machen und sie vielleicht dann in vier Jahren zu vermeiden. Die Spitzenkandidaten in Berlin werden jetzt weiterhin die Hauptlast medialen Interesses tragen müssen, und im Gegensatz zu Direktkandidaten fokusiert sich dieses auf den einen Kandidaten ganz oben auf der Liste.

Ja, es wird vorher sicher weitere Möglichkeiten für Direktkandidaten geben, Fehler zu machen, etwa bei Landtags- und Kommunalwahlen, aber dort ist die Situation eine gänzlich andere und für uns eine viel schwierigere. Unsere Kernthemen sind auf diesen Ebenen viel schwieriger zu transportieren, und es werden Themen mit anderen Schwerpunkten sein müssen, die wir auch erst noch finden müssen. Und die Erfahrungen aus diesen Wahlkämpfen werden nicht ohne weiteres auf 2013 übertragbar sein.

Ich persönlich habe innerhalb der vierundzwanzig Stunden, nachdem ich meine Bereitschaft für eine Direktkandidatur bekanntgegeben hatte, eine unglaubliche Unterstützung erfahren, die ich so nicht erwartet hatte, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Partei. In der Firma, die bereit war, zwei Monate komplett auf meine Anwesenheit zu verzichten, so dass ich mich rund um die Uhr dem Wahlkampf hätte widmen können. Gut vernetzte Freunde aus dem Umfeld des Chaos Computer Clubs, die mich mit ihren nicht unerheblichen Möglichkeiten unterstützen wollten, und sogar viele Leute, die ich nicht kenne, haben unaufgefordert Hilfe angeboten haben. Und nicht zuletzt meine Familie, die bereit war, dieses Abenteuer zu unterstützen. So viel Rückenwind hatte ich beim besten Willen nicht erwartet.

Viele davon sind derzeit enttäuscht, dass diese weitere Beschleunigsstufe für die Entwicklung der Piraten in Berlin derzeit nicht zünden wird, es gibt aber einige Direktkandidaten in anderen Landesverbänden; in Berlin wäre aber die Sichtbarkeit gross gewesen.

Dennoch gibt es für mich jetzt kein zurück, und an den Gründen für mein Engagement in der Piratenpartei hat sich nichts geändert. Zwar bleibt mir die Feuertaufe als Kandidat vorerst erspart, und ich werde jetzt auch nicht zwei Monate rund um die Uhr für Parteiarbeit widmen, aber ich möchte dennoch den Schub und die angebotene Unterstüzung nutzen, damit wir nicht nur bei der kommenden Wahl möglicht viele Stimmen holen, sondern die anderen Parteien das Fürchten lehren. Denn auch wenn die anderen Parteien sich ernsthaft unserer Themen annehmen, haben wir gewonnen. Derzeit sind dort aber allenfalls Lippenbekenntnisse zu vernehmen.

All das erreichen wir, indem wir so viele aktive Unterstützer wie möglich motivieren, sich uns anzuschliessen.

Dafür bedarf es aber Strukturen, die dem rasanten Wachstum Rechnung tragen; in Berlin wurde daher auf dem Parteitag als erster Schritt das Crewkonzept vorgestellt, wo wir uns unter anderem in vielen kleinen, räumlich verteilten Gruppen mit 5-9 Personen organisieren wollen.

Die beiden grossen Parteien verlieren derzeit pro Jahr rund dreissigtausend Mitglieder. Um also die Verwurzelung der Politik in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, müssten wir also eine ähnlich grosse Zahl von Menschen integrieren, bei uns oder in anderen Parteien.

Das ist meiner Meinung nach die grosse Aufgabe, vor der wir stehen, und das erfordert vor allem dreierlei:

  • Eine fundierte Verbreiterung unseres Programms auf verwandte Themen, die mehr Menschen ansprechen und auch für Landes- und Kommunalwahlen brauchbar sind, etwa das Thema Bildung
  • Die angemessene Einbindung von Persönlichkeiten, die in der Lage sind, innerhalb und ausserhalb der Partei zu begeistern und zu überzeugen
  • Das Schaffen einer modernen partizipativen Parteistruktur, die skaliert und effizient funktioniert, ohne die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Strukturen der anderen Parteien nachzuahmen

All hat bereits begonnen, und ich werde mich an allen Aufgaben beteiligen.

Die grosse Frage ist, ob wir dabei vor allem schnell oder vor allem sorgfältig vorgehen müssen. In Berlin hat die Sorgfalt gerade knapp gesiegt. Nur können wir uns die Wahltermine nicht aussuchen, und gerade Piraten stünde etwas mehr Mut gut an. Hier ist allein der Parteiname bereits Verpflichtung. Ansonsten hätten wir uns auch "Behutsame Modernisierungpartei" nennen können.

Und jetzt lasst uns den anderen Parteien bei der Bundestagswahl Saures geben!

Pavel