Analyse des Koalitionsvertrages Bundestag 2009
50px | Dieser Artikel ist keine offizielle Aussage der Piratenpartei Deutschland. Hier wurde ein Essay von mehreren Piraten verfasst. |
Hier entsteht im Auftrag der Bundespressestelle eine Analyse des Koalitionsvertrages von CDU, CSU und FDP auf Bundesebene. Diese Analyse ist für Printmedien gedacht, daher sollen bitte keine Links oder sonstige nichttextuelle Metainformationen angebracht werden. Ebenso soll die Gesamtgröße des Textes nicht den Rahmen dessen sprengen, was eine Zeitung bereit wäre, abzudrucken.
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Plötzlich, mitten im Wahlkampf, entdeckte die FDP vorgeblich ihre Liebe für Bürgerrechte neu. Existenz, Wachstum und Erfolge der Piratenpartei trugen hierzu vermutlich einen großen Teil bei. Nun ist die Wahl gelaufen, der Koalitionsvertrag ist geschlossen und die FDP ist mit einem für sie phänomenalen Ergebnis stark an der neuen Regierung beteiligt. Ihre Handschrift ist an vielen Stellen des Koalitionsvertrages sehr deutlich zu erkennen. Machtpolitisch hat sie somit auf ganzer Linie gesiegt. Innerhalb der von den Piraten stärker in den Fokus gerückten Themen von Bürgerrechten, Bildung und den so genannten "Neuen Medien" fällt die Analyse jedoch weniger positiv aus. Bei genauerer Betrachtung halten die dort getroffenen Vereinbarungen an vielen Stellen einer kritischen Überprüfung nicht stand.
Die Prinzipien, welche innerhalb des Koalitionsvertrages in einleitenden Worten genannt werden, sind dabei zunächst durchaus positiv zu bewerten. So wird in der Einleitung des Kapitels IV "Freiheit und Sicherheit" - man beachte an dieser Stelle die Reihenfolge - erklärt: "Der Staat hat die Aufgabe, die unveräußerlichen Freiheiten jedes Einzelnen [...] umfassend zur Geltung zu bringen. Zugleich hat er mit seinem Gewaltmonopol Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Dabei ist er rechtsstaatlichen Bindungen unterworfen, zu denen das Verbot unangemessener Grundrechtseingriffe zählt."
Allerdings sprechen die konkreten Maßnahmen dann leider an vielen Stellen eine ganz andere Sprache: "Daher werden wir auf Grundlage der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung das BKA-Gesetz daraufhin überprüfen, ob und inwieweit der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung zu verbessern ist." Eine schöne Formulierung, die letztendlich aber lediglich besagt, dass die Teile des Gesetzes, welche vom Verfassungsgericht als verfassungswidrig definiert werden, nicht akzeptabel sind - eine Binsenweisheit.
Ebenso Anlass zur Sorge gibt Kapitel IV.4. Dort heißt es: "Wir werden eine gesetzliche Verpflichtung schaffen, wonach Zeugen im Ermittlungsverfahren nicht nur vor dem Richter und dem Staatsanwalt, sondern auch vor der Polizei erscheinen und - unbeschadet gesetzlicher Zeugenrechte - zur Sache aussagen müssen." Ein solches Sonderrecht der Polizei ist ebenso unnötig wie bedenklich: In Zeiten, in denen die Polizei öfter eine "Gefahr im Verzug" heraufbeschwört, um eine Hausdurchsuchung durchführen zu können, und immer öfter durch Willküraktionen auffällt, benötigt unser gesellschaftliches Zusammenleben auf keinen Fall ein größeres Instrumentarium an Druckmitteln. Es gehört zu unserer Rechtsstaatlichkeit, dass eine Aussage wohlüberlegt, gut vorbereitet und ggf. von einem Anwalt begleitet werden kann. Dieses Recht ist zu stärken, anstatt es mit Aussagepflichten vor der Polizei zu verwässern.
An verschiedenen Stellen wird der staatlichen Überwachung nicht einmal in Form einer hohlen Formulierung entgegen getreten, sondern diese sogar voran getrieben. So beispielsweise in Kapitel IV.1.: "Die Reform der Telekommunikationsüberwachung werden wir im Hinblick darauf evaluieren, ob deren Ziele erreicht wurden und welche Maßnahmen zur Optimierung ergriffen werden können." Wer an dieser Stelle auf Sinnhaftigkeitsfragen oder Beschränkungen gehofft hat, wird bitter enttäuscht.
Auch in anderen Bereichen enttäuscht der Koalitionsvertrag: Anstatt sich beispielsweise einer Erhöhung der Qualität der Bildung in Hochschulen sowie der Senkung von Barrieren und Hemmschwellen auf dem Weg dorthin zu widmen, etwa durch die Abschaffung der unsäglichen Studiengebühren, welche weder zu einer Beschleunigung noch zu einer Qualitätsverbesserung geführt haben, wird von Union und FDP in Kapitel I.3.1. folgende Marschrichtung ausgegeben: "Zur effizienteren Schließung der absehbaren Fachkräftelücke [...] muss der Arbeitsmarktzugang für Nichtdeutsche besser geregelt werden." Wie man darauf gekommen ist, dass der Fachkräftemangel uns erst in Zukunft treffen würde? Warum die neuen, nicht näher genannten Methoden besser funktionieren sollen als bisherige Bestrebungen vergleichbarer Art? Das wird wohl das Geheimnis dieser Regierungskoalition bleiben. Erforderlich gewesen wären stattdessen Maßnahmen, die sowohl die Qualität der hochschulischen Bildung erhöhen, als auch solche, die zu einer Erhöhung der Studierenden unabhängig von Herkunft und persönlichem Hintergrund führen. Mit so simplizistischen Lösungsansätzen wie der nicht zweckgebundenen Zahlung von Studiengebühren durch die Studierenden -von den Studiengebühren wurden Renovierungen durchgeführt, neue Stühle gekauft etc.- wird so komplexen Problemen wie der zu niedrigen Qualität der hochschulischen Bildung nicht beizukommen sein.
Ebenso wird von der Regierungskoalition leider nach wie vor nicht anerkannt, dass sich das Problem der Urheberrechtsverletzungen im Internet weder wegdiskutieren noch wegklagen lässt. Ohne eine umfassende Reform des Urheberrechts, welche dafür sorgt, dass den Kunst- und Kulturschaffenden eine angemessene und gerechte Entlohnung zukommt, auch, wenn die Nutzung von Tauschbörsen im Netz weitergeht, wird die entsprechende Industrie an ihrem eigenen Starrsinn zu Grunde gehen. Die Piratenpartei ist nach wie vor die einzige Partei, welche diese Problematik in dieser Form anerkennt und an einer Lösung hierfür interessiert ist. Die Regierungskoalition geht auch in diesem Themenfeld von falschen Tatsachen aus. So steht hierzu im Kapitel IV.2: "Das Internet darf kein urheberrechtsfreier Raum sein. Wir werden deshalb unter Wahrung des Datenschutzes bessere und wirksame Instrumente zur konsequenten Bekämpfung von Urheberrechtsverletzungen im Internet schaffen. Dabei wollen wir Möglichkeiten der Selbstregulierung unter Beteiligung von Rechteinhabern und Internetserviceprovidern fördern. Wir werden keine Initiativen für gesetzliche Internetsperren bei Urheberrechtsverletzungen ergreifen." Im Klartext bedeutet dies: Beibehaltung des Ist-Zustandes. "Wirksame Instrumente" gegen Urheberrechtsverletzungen, die ihrerseits nicht entweder den Datenschutz oder die Grundrechte verletzen, sind nicht möglich, wie übrigens auch alle bisherigen Versuche in diesem Bereich zeigen. Die Rechteinhaber hatten sehr wohl die letzten zehn Jahre Zeit, dieser für sie negativen Entwicklung des technischen Fortschritts durch alternative Geschäftsmodelle etc. zu begegnen. Dies wurde jedoch auf ganzer Linie versäumt. Angesichts der sämtliche rechtsstaatlichen Prinzipien außer Acht lassenden Zusammenarbeit der Rechteverwerter und Internetserviceprovider gegen die eigenen Kunden von Vertrauen auf Selbstregulierung zu sprechen wirkt wie blanker Hohn. Die Regierungskoalition bleibt die Antwort schuldig, worauf dieses Vertrauen nach den Erfahrungen der Vergangenheit begründet sein soll.
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die FDP insgesamt nicht mehr als einen Pyrrhussieg errungen hat, insbesondere bei den Bürgerrechten. Die beschlossenen Maßnahmen sind viel zu halbherzig, um im Bereich der Innenpolitik von einem echten Paradigmenwechsel sprechen zu können. Zu sehr klingen nun die vollmundigen Versprechungen der FDP vor der Wahl wie Lippenbekenntnisse ohne echte Überzeugung dahinter.
Es bleibt einem nur zu hoffen, dass der paranoide Wahnsinn, der auch die fragwürdigsten Einschränkungen von Freiheit und Bürgerrechten pauschal mit dem Ziel der "Sicherheit" rechtfertigte, langsam zurückgeht. Ferner wird es hoffentlich zu weniger Einschnitten im Bereich der Bürgerrechte kommen als in den vergangenen zehn Jahren. Mehr als ein erster Schritt in die richtige Richtung ist dies allerdings nicht: Um zu einer freiheitlichen Demokratie zurückzukehren, müssen solche Einschnitte vollständig unterbleiben, und der bisher angerichtete Schaden muss behoben werden. Dies scheint auch in der Bevölkerung so wahrgenommen zu werden - die jüngst veröffentlichten Umfrageergebnisse, in denen die Wählergunst der FDP auf einen Jahresnegativrekord gefallen ist, sprechen hier eine deutliche Sprache.
Vor diesem Hintergrund sieht die Piratenpartei es als ihre Pflicht an, sich auch weiterhin mit Nachdruck für die Freiheitlichkeit unseres Landes einzusetzen.